Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
8.12.2010 Fiktionen des romantischen Ich (II)<br />
Wir hatten letzte Woche am Beispiel von Benjamin Constants „roman personnel“<br />
Adolphe einen prinzipiellen Zweifel an der Sprache beobachtet, oder genauer: an der<br />
Fähigkeit der Sprache, als Instrument der Selbstanalyse zu dienen. Wir hatten zum<br />
Schluß Constants Formulierung aus dem Entwurf zum zweiten Vorwort seines<br />
Romans gelesen, in dem er davon spricht, daß die unverfälschte Wahrnehmung der<br />
eigenen Gefühle immer schon dadurch beeinträchtigt werde, daß eine Wahrnehmung<br />
ohne einen gleichzeitig entstehenden ‚Hintergedanken‘, eine „arrière-pensée“, wie<br />
Constant sagt, nicht denkbar sei. Die Verbindung dieser dauernden Selbstanalyse mit<br />
der allgemeinen Kraft- und Antriebslosigkeit, durch die sich die Generation der 1816<br />
etwa Zwanzigjährigen auszeichne, habe deshalb die Ausmaße einer moralischen<br />
Krankheit des Jahrhunderts angenommen:<br />
J’ai voulu peindre dans Adolphe une des principales maladies morales de notre siècle,<br />
cette fatigue, cette incertitude, cette absence de force, cette analyse perpétuelle, qui place<br />
une arrière-pensée à côté de tous les sentiments, et qui par là les flétrit dès leur naissance.<br />
[…] Cette maladie de l’âme est plus commune qu’on ne le croit – beaucoup de jeunes gens<br />
nous en offrent les symptômes. 77<br />
Wir werden am Beispiel von Alfred de Mussets zwanzig Jahre nach Constants Roman<br />
erschienener Confession d’un enfant du siècle gleich sehen, wie sich die bei Adolphe<br />
angelegte Zeitdiagnostik weiterentwickelt, aber zunächst werfen wir noch einen Blick<br />
auf die mehrschichtige und mehrperspektivische Erzählform von Adolphe. Der<br />
Leseprozeß wird durch mehrere Instanzen gelenkt, die jeweils einen anderen Blick<br />
auf die im Mittelteil erzählte Handlung erlauben.<br />
Préfaces<br />
(2ème éd. 1816<br />
3ème éd. 1824)<br />
„Schwellentext“/<br />
Paratext<br />
Avis de<br />
l’éditeur<br />
Anecdote<br />
trouvée<br />
Lettre à<br />
dans l’éditeur<br />
Réponse<br />
les papiers d’un<br />
inconnu<br />
(Kap. 1–10)<br />
Diegese Diegese Diegese Diegese<br />
Nur die erste Ausgabe, die 1816 in London erschienen war, hatte kein Vorwort, ab der<br />
zweiten, Pariser Ausgabe, die ebenfalls 1816 erschienen war, begann die Lektüre mit<br />
dem einer ausführlichen „Préface de la seconde édition ou Essai sur le caractère et le<br />
résultat moral de l’ouvrage“. Constant wandte sich darin zunächst vehement gegen<br />
77 Constant: OC. Bd. III,1, S. 196.<br />
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