15.06.2014 Aufrufe

Vorlesung Romantik Text

Vorlesung Romantik Text

Vorlesung Romantik Text

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

Das andere Modell ist die religiös inspirierte Introspektion oder der Bericht einer<br />

religiösen Bekehrung, der auf die spätantiken Confessiones des Augustinus<br />

zurückgeht und dessen unmittelbares Vorbild für die <strong>Romantik</strong> Rousseau geliefert<br />

hat. Zum Konfessionsstil gehört das zumindest behauptete Bemühen um<br />

Aufrichtigkeit und Selbsterforschung. Weder die Memoiren noch die Konfessionen<br />

unterliegen jedoch definierten Gattungsregeln und bieten deshalb eine große<br />

Bandbreite von Ausdrucksmöglichkeiten und erlauben vor allem, beständig zwischen<br />

Fiktion und Geständnis schwanken zu dürfen. Alfred de Musset hat den Reiz dieses<br />

undefinierten Status der Confessions sehr deutlich wahrgenommen. Schon 1828<br />

hatte er die Confessions of an English Opium-Eater von Thomas de Quincey ins<br />

Französische übersetzt, und nach dem großen Erfolg seiner Confession d’un enfant<br />

du siècle – die erste Auflage war schon nach wenigen Tagen verkauft – hat er im Juni<br />

1836 an Franz Liszt geschrieben:<br />

Ces sortes d’ouvrages, intéressants ou non, sont en dehors de l’art, il me semble; pas assez<br />

vrais pour être des mémoires, à beaucoup près et pas assez faux pour des romans.<br />

Den Titel der Confessions, oder, in weltlicher Abwandlung, der Confidences, finden<br />

wir bei so unterschiedlichen Autoren wie dem Sozialrevolutionär Pierre-Joseph<br />

Proudhon (Confessions d’un révolutionnaire, 1849) oder dem frommen Alphonse de<br />

Lamartine (Les Confidences, 1849)<br />

Die Gattungslosigkeit oder Gattungsoffenheit des autobiographischen Schreibens<br />

bedeutet für viele Autoren eine Gelegenheit, neue Ausdrucksformen zu erproben,<br />

während gleichzeitig das nachrevolutionäre Lesepublikum Lebensgeschichten mit<br />

besonderem Interesse aufnimmt. Ein großangelegtes Unternehmen wie die Mémoires<br />

relatifs à la Révolution française, eine Reihe des Verlags Baudouin, in der von 1820<br />

bis 1828 sechzig Bände mit Erinnerungsliteratur erscheinen, hat von diesem<br />

Interesse gelebt und eine romantische Sicht auf die Französische Revolution<br />

etabliert. Man hat die Zeit zwischen 1815 und 1848, also die Jahrzehnte der<br />

Restauration und der Julimonarchie in Frankreich, als die große Zeit der Memoiren<br />

bezeichnet, in der das relative politische Vakuum durch die Erinnerung an die Zeiten<br />

von Frankreichs Größe kompensiert wurde. Das konnten sowohl die Memoiren<br />

historischer Persönlichkeiten des Ancien Régime als auch solche aus der jüngsten<br />

Vergangenheit der Revolution und der Zeit des Empire sein. Die Gattung der<br />

„Mémoires historiques“, wie der Untertitel meist lautete, ermöglichte es, zwei<br />

romantische Hauptinteressen zu verbinden, nämlich den „culte du moi“ und den<br />

„culte de l’histoire“. Wir werden auf die Bedeutung der <strong>Romantik</strong> für die Entwicklung<br />

82

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!