Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Epoche zu schreiben. In diesem Punkt sollte die Comédie humaine nun Walter Scotts<br />
bereits enorme Leistung noch überbieten:<br />
En apercevant ce défaut de liaison, […] je vis à la fois le système favorable à l’exécution de<br />
mon ouvrage et la possibilité de l’exécuter.<br />
Balzacs Programm umfaßt also sowohl den romantischen Anspruch, alle Gattungen<br />
zu vermischen und den Roman auf das Niveau der Philosophie zu heben, den er an<br />
Scotts Romanen lobt, wie wir gerade gesehen haben, umfaßt aber gleichzeitig auch<br />
den Asnpruch, dabei ein System zu begründen, mit dem sich Scotts Leistungen noch<br />
überbieten lassen. Das Resultat dieser Verbindung von historischem Roman und<br />
analytischem System ist ein Beschreibungsinstrument, mit dem sich sogar die<br />
bisherige Geschichtsschreibung noch überbieten lasse. Balzac sagt jedenfalls im<br />
„Avant propos“ von 1842, daß mit seiner Beschreibungsweise eine Realität in den<br />
Blick rückt, die bislang von den Historikern vernachlässigt worden sei:<br />
En saisissant bien le sens de cette composition, on reconnaîtra que j’accorde aux faits<br />
constants, quotidiens, secrets ou patents, aux actes de la vie individuelle, à leurs causes et<br />
à leurs principes autant d’importance que jusqu’alors les historiens en ont attaché aux<br />
événements de la vie publique des nations. 104<br />
Ein historiographisches Projekt, das mit Balzacs Romanprojekt große<br />
Gemeinsamkeiten aufweist, besonders im Anspruch, die Gesellschaft in ihrer<br />
Totalität zu erfassen, ist die ebenfalls in den frühen 1830er Jahren begonnene<br />
Histoire de France von Jules Michelet. Ähnlich wie Balzac von seiner plötzlichen<br />
Eingebung sprechen konnte, die ihm auf einen Schlag die Grundlagen für sein Werk<br />
klargemacht habe, spricht Michelet im Vorwort zu seiner Geschichte Frankreichs mit<br />
einer Lichtmetapher von der neuen Perspektive, in der ihm Frankreich nach der Juli-<br />
Revolution von 1830 erschienen sei. Im Rückblick von 1869 schreibt Michelet über<br />
die Anfänge seines monumentalen Werks, das die Geschichte von Frankreichs von<br />
den mittelalterlichen Anfängen bis zur Revolution auf vielen tausend Seiten darstellt:<br />
Cette œuvre laborieuse d’environ quarante ans fut conçue d’un moment, de l’éclair de<br />
juillet. Dans ces jours mémorables, une grande lumière se fit, et j’aperçus la France. Elle<br />
avait des annales, et non point une histoire Des hommes éminents l’avaient étudiée<br />
surtout au point de vue politique. Nul n’avait pénétré dans l’infini détail des<br />
développements divers de son activité (religieuse, économique, artistique, etc.). Nul ne<br />
l’avait encore embrassée du regard dans l’unité vivante des éléments naturels et<br />
géographiques qui l’ont constituée. Le premier je la vis comme une âme et une personne.<br />
(Jules Michelet : « Préface » zur abgeschlossenen Histoire de France, 1869)<br />
Die hier ausgedrückte Vorstellung, Frankreich wie eine Person untersuchen zu<br />
können und in den zahllosen Facetten doch immer denselben Gegenstand zu<br />
104 Balzac: Avant-Propos (Comédie humaine, Pléiade-Ausgabe, Bd. 1, S. 17).<br />
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