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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

Hochzeitsnacht erklingt dann der Hornruf, mit dem Ruy Hernanis Leben einfordert;<br />

schließlich gemeinsamer Gifttod Hernanis und Doña Sols, der dann die Liebesnacht<br />

ersetzt.<br />

Das Stück wird im Oktober 1829 von der Comédie-Française angenommen, und<br />

auch die Zensur will nicht zweimal innerhalb von zwei Monaten ein Stück von Hugo<br />

verbieten. Der Bericht des Zensors, mit dem er das Stück zur Aufführung freigibt, ist<br />

aber sprechend, weil der Zensor sinngemäß sagt, daß das Stück so unsinnig und<br />

geschmacklos sei, daß das Publikum sich selbst eine Meinung davon machen solle:<br />

Cette pièce abonde en inconvenances de toute nature. Le roi s’exprime souvent comme un<br />

bandit, le bandit traite le roi comme un brigand. La fille d’un grand d’Espagne n’est<br />

qu’une dévergondée, sans dignité ni pudeur, etc. Toutefois, malgré tant de vices capitaux,<br />

nous sommes d’avis […] qu’il est d’une sage politique de n’en pas retrancher un seul mot.<br />

Il est bon que le public voie jusqu’à quel point d’égarement peut aller l’esprit humain<br />

affranchi de toute règle et de toute bienséance. 98<br />

Der Zensor sagt also deutlich: hätte Hugo sich an die klassischen Regeln gehalten,<br />

wäre ihm ein solcher Irrsinn nicht aus der Feder geflossen. Bemerkenswert ist bei<br />

aller Regellosigkeit, daß Hugo bewußt am Alexandriner festhält und sich in diesem<br />

Punkt von Stendhals Forderungen nach einem historischen Drama in Prosa entfernt.<br />

Stendhals Forderungen entspricht eher der mit Stendhal befreundete Prosper<br />

Mérimée, der ab 1825, also ab dem Erscheinen des zweiten Racine et Shakespeare,<br />

mit der Veröffentlichung des Théâtre de Clara Gazul beginnt, einer Sammlung von<br />

historischen Stücken in Prosa, die angeblich von einer alten spanischen<br />

Schauspielerin verfaßt sind. Passend zum Theatertheoretiker Stendhal, der selbst<br />

keine Theaterstücke verfaßt, sind Mérimées <strong>Text</strong>e reine Lesedramen, die für die<br />

Lektüre in ausgewählten Kreisen, nicht aber für die Bühne geschrieben sind.<br />

Wir haben heute mit François Guizot schon einen der wichtigsten romantischen<br />

Historiker kennengelernt, wir werden nächste Woche noch einmal auf den<br />

romantischen Geschichtsbegriff und dessen Folgen in Roman, Drama und<br />

Literaturgeschichtsschreibung zurückkommen. Es ist kein Zufall, daß die Anfänge zu<br />

dem, was wir hier heute als Literaturwissenschaft betreiben, in der <strong>Romantik</strong> liegen.<br />

Dazu nächste Woche mehr.<br />

98 Bericht des Zensors Charles Brifaut; zit. nach Hugo: OC. Éd. Massin. Bd. 3, S. 1413–1414.<br />

98

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