Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
von der eigenen Sentimentalität durchkreuzten Zynismus der Söhne. In seinen für<br />
Ellénore tödlichen Folgen wird dieser Zusammenstoß in der Auseinandersetzung<br />
Adolphes mit dem Baron de T*** illustriert. Der Baron ist schon vor Adolphes<br />
Eintreffen in Warschau über die Affaire mit Ellénore informiert und reagiert auf<br />
Adolphes Beschreibung seiner verfahrenen Lage gelangweilt: das sei ein alter Hut,<br />
jeder Mann habe schon einmal eine Frau verlassen wollen und Angst gehabt, sie<br />
damit zu verletzen, und jede leidenschaftliche Frau habe schon einmal gesagt, daß es<br />
ihr Tod sei, wenn sie verlassen würde. Bis jetzt hätten das aber alle überlebt und sich<br />
auch bald getröstet:<br />
[…] il n’y a pas d’homme qui ne se soit, une fois dans sa vie, trouvé tiraillé par le désir de<br />
rompre une liaison inconvenable et la crainte d’affliger une femme qu’il avait aimée […].Il<br />
n’y a pas une de ces femmes passionnées dont le monde est plein qui n’ait protesté qu’on<br />
la ferait mourir en l’abandonnant ; il n’y en a pas une qui ne soit encore en vie et qui ne<br />
soit consolée. (122)<br />
Adolphe reagiert auf diese Belehrungen mit einer glühenden Verteidigung Ellénores,<br />
an die er aber schon selbst nicht mehr glaubt, als er das Zimmer des Barons verläßt.<br />
Er sucht nun in der herbstlichen polnischen Landschaft nach Reflexen seines inneren<br />
Zustands und findet diese auch sofort. Die Art, wie Adolphe diese Natureindrücke<br />
formuliert, sind allerdings so klischeehaft, daß man auch hier dem Erzähler nicht<br />
trauen kann. Der Anblick des grauen Himmels, der den Horizont verschwinden läßt,<br />
verschafft ihm ein Gefühl von Unermeßlichkeit, „la sensation de l’immensité“, was<br />
ihm gegenüber seinen ständigen Gedanken an seine komplizierte<br />
Beziehungsgeschichte als eine Befreiung erscheint. Er redet sich ein, daß ihm der<br />
Anblick der Natur zu neuen und großzügigeren Gedanken verhelfe, macht aber in der<br />
Art, in der er darüber spricht, für den Leser sofort klar, daß es sich um einen weiteren<br />
Versuch handelt, sich selbst zu betrügen:<br />
Je m’étais rapetissé, pour ainsi dire, dans un nouveau genre d’égoïsme, dans un égoïsme<br />
sans courage, mécontent et humilié; je me sus bon gré de renaître à des pensées d’un<br />
autre ordre, et de me retrouver la faculté de m’oublier moi-même, pour me livrer à des<br />
méditations désintéressées; mon âme semblait se relever d’une dégradation longue et<br />
honteuse.<br />
Welche sprachlichen Indizien haben wir hier dafür, daß wieder jedes vermeintlich<br />
spontane Gefühl von einem Hintergedanken, einer „arrière-pensée“ begleitet ist?<br />
Wenn er sich selbst dankbar dafür ist (“je me sus bon gré“), daß ihm die Natur zu<br />
angeblich desinteressierten Meditationen verhilft, haben wir es zumindest mit einer<br />
doppelten Persönlichkeit zu tun, sicher aber nicht mit spontanem, unvermitteltem<br />
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