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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

Vater seinem Sohn gewährt hatte und Adolphe kehrt zu seinem Vater zurück. In den<br />

Briefen, die er Ellénore schreibt, bemüht er sich auf den ersten Seiten um einen<br />

besonders neutralen Ton, bekommt dann aber beim Gedanken an die einsam<br />

leidende Ellénore ein schlechtes Gewissen und endet seine Briefe regelmäßig<br />

besonders leidenschaftlich. Ellénore zieht ihm schließlich nach und nimmt sich eine<br />

Wohnung in seiner Stadt. Adolphe will deshalb zunächst die endgültige Trennung<br />

herbeiführen, doch als sein Vater Ellénore aus der Stadt jagen lassen will, flüchtet<br />

Adolphe mit ihr. Er ist in dem Moment wieder überzeugt, Ellénore zu lieben, doch die<br />

sagt ihm auf den Kopf zu, daß er nur Mitleid für sie empfinde. Seine Antwort darauf<br />

ist ein weiteres Beispiel für seine dauernden Selbstbetrugsversuche:<br />

[…] vous vous trompez sur vous-même ; […] vous croyez avoir de l’amour, et vous n’avez<br />

que de la pitié – Pourquoi prononça-t-elle ces mots funestes ? Pourquoi me révéla-t-elle<br />

un secret que je voulais ignorer ? (108)<br />

Ein Geheimnis, das man ignorieren möchte, ist logischerweise zumindest für<br />

denjenigen keines, der es ignorieren will, aber gerade deshalb ist dieser Satz so<br />

bezeichnend für Adolphes Unfähigkeit, seine eigenen Gefühle zu beurteilen. Auch die<br />

Reaktion seines Vaters auf die Flucht mit Ellénore entspricht nicht seinen<br />

Erwartungen: Adolphe hatte gehofft, wenigstens dadurch, daß er Widerstand gegen<br />

den Willen seines leistet, so etwas wie eine romantische „gloire“ als leidenschaftlich<br />

Liebender zu ernten, wenn ihm schon der Ruhm einer professionellen Karriere<br />

dadurch versagt bleibt, daß er sich nicht von Ellénore lösen kann. Aber selbst das<br />

mißlingt, weil sein Vater überhaupt nicht versucht, etwas gegen die Flucht zu<br />

unternehmen und sich sogar von selbst bereit erklärt, seinen Sohn weiter finanziell<br />

zu unterstützen und die Flucht als Geschäftsreise zu maskieren. Er wirft Adolphe nur<br />

vor, daß er seine besten Jahre nutzlos vergeude. Genau das hatte sich aber ja Adolphe<br />

selbst schon vorgeworfen:<br />

La lettre de mon père me perça de mille coups de poignard. Je m’étais dit cent fois ce qu’il<br />

me disait: j’avais eu cent fois honte de ma vie s’écoulant dans l’obscurité et dans<br />

l’inaction. J’aurais mieux aimé des reproches, des menaces; j’aurais mis quelque gloire à<br />

résister, et j’aurais senti la nécessité de rassembler mes forces pour défendre Ellénore des<br />

périls qui l’auraient assaillie. Mais il n’y avait point de périls; on me laissait parfaitement<br />

libre; et cette liberté ne me servait qu’à porter plus impatiemment le joug que j’avais l’air<br />

de choisir. (110)<br />

Lange Phasen melancholischer Untätigkeit wechseln bei Adolphe mit kurzen<br />

Momenten von Entscheidungsfreudigkeit ab, doch diese Entscheidungen führen<br />

regelmäßig dazu, daß er genau das Gegenteil von dem erreicht, was er bezweckt hatte.<br />

Die romantische Existenz, die er sich als Kompensation der fehlenden ruhmreichen<br />

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