Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
dem sich Constant zeit seines Lebens intensiv beschäftigt hat, so daß man es<br />
bedauern kann, daß er die Rezension der chateaubriandschen Martyrs nie<br />
geschrieben hat. Auch von René hat Constant nicht viel gehalten, und man hat daher<br />
Adolphe auch als eine Art Anti-René zu lesen versucht. Vor allem aber hat die<br />
Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts sich mit großer Akribie der Frage<br />
gewidmet, welche privaten Frauengeschichten Constant denn in seinem <strong>Text</strong><br />
verarbeitet habe. Man darf diese Frage heute erfreulicherweise für vollkommen<br />
irrelevant halten, zumal sie von den eigentlichen Qualitäten des <strong>Text</strong>s als <strong>Text</strong> nur<br />
ablenkt. Sicher haben Constants Frustrationen aus der Beziehung mit Mme de Staël<br />
die Zeichnung der Ellénore mit beeinflußt, aber diese Feststellung bringt uns genauso<br />
wenig, als wenn wir zu einer Szene, in der jemand einen Apfel ißt oder auf einem<br />
Pferd reitet, sagen würden, daß er hier sicherlich eigene Erfahrungen beim<br />
Apfelessen oder beim Reiten verarbeitet hat. Erstaunlich ist eher, daß sich ansonsten<br />
sicher intelligente Menschen jahrelang mit solchen biographischen Details<br />
aufgehalten und sich untereinander wütende Streitereien geliefert haben, weil die<br />
eine Gruppe in Ellénore mehr Mme de Staël, die andere mehr eine andere ehemalige<br />
Geliebte von Constant, die Irin Anna Lindsay, sehen wollte.<br />
Wesentlich ergiebiger scheint es zu sein, den Roman mit einem Interesse an der<br />
Darstellung eines melancholischen romantischen Ich in seinem Verhältnis zur<br />
Sprache und zur Natur zu lesen. Constant gelingt es, einen relativ antriebslosen, eher<br />
unsympathischen jungen Mann zu zeichnen, dessen dauernder Selbstbetrug vom<br />
Leser durchschaut wird, ohne daß man deswegen das Interesse an den Folgen dieses<br />
Selbstbetrugs verlieren würde. Die spezifisch romantisch erscheinenden Moment,<br />
etwa im Verhältnis des Ich zur Natur, erscheinen dabei alle gebrochen durch die<br />
sprachliche Gestaltung des Ich-Erzählers, nämlich des Protagonisten Adolphe selbst,<br />
so daß die romantischen Effekte uns alle als Resultate dieses Selbstbetrugs<br />
erscheinen. Entscheiden können wir das aber nur bedingt, da wir nichts als die von<br />
Adolphe selbst überlieferten und von keiner anderen Instanz objektivierten<br />
sprachlichen Informationen erhalten. Stendhal hat den Roman in einer berühmten<br />
Rezension als einen „marivaudage tragique“ bezeichnet. Das soll heißen, daß man bei<br />
Adolphe nur darauf warte, wann und auf welchem Weg die Beziehung endgültig<br />
beendet werde, so wie man sich bei Marivaux’ Komödien im 18. Jahrhundert immer<br />
nur gefragt habe, wie die Beziehung nach vielen Verwicklungen zustande kommen<br />
werde:<br />
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