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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

Homer ab, die des Nordens von Ossian. Bei den angeblich frühmittelalterlichen<br />

Gesängen Ossians handelte es sich, wie sie vermutlich bereits wissen, um eine<br />

Fälschung des 18. Jahrhunderts, die in ganz Europa bis zum Ende des<br />

18. Jahrhunderts allerdings für echt gehalten wurde. Der schottische Schriftsteller<br />

und Politiker James Macpherson hatte 1761 behauptet, er habe die Gesänge eines<br />

gälischen Barden des 3. Jahrhunderts aus mündlicher Überlieferung gesammelt und<br />

niedergeschrieben. Damit löste er eine europaweite Begeisterung für Bardenliteratur<br />

aus, die man als Beweis für die Existenz einer frühen literarischen Hochkultur auch<br />

in Nordeuropa verwendetet. Diese Begeisterung drückte sich auch in anderen<br />

Editionsunternehmen aus, die zur Neubewertung der skandinavischen oder der<br />

deutschen Literatur des Mittelalters führten.<br />

Auch wenn die Literatur, die mit dem Namen Ossian verbunden wurde, eine<br />

Erfindung war, sind doch die Eigenschaften, die sich mit dieser Literatur verbinden,<br />

bereits deutlich romantisch beeinflußt. Mme de Staël verwendet zwar das Wort nicht,<br />

umschreibt aber in ihrer Charakteristik der „ossianischen“ Züge in der Literatur des<br />

Nordens relativ genau das, was man um 1800 darunter verstehen konnte:<br />

La poésie mélancolique est la poésie plus d’accord avec la philosophie. La tristesse fait<br />

pénétrer bien plus avant dans le caractère et la destinée de l’homme, que toute autre<br />

disposition de l’ame. Les poètes anglais qui ont succédé aux Bardes Ecossais, ont ajouté à<br />

leurs tableaux les réflexions et les idées que ces tableaux même devoient faire naître; mais<br />

ils ont conservé l’imagination du nord, celle qui se plaît au bord de la mer, au bruit des<br />

vents, dans les bruyères sauvages; celle enfin qui porte vers l’avenir, vers un autre monde,<br />

l’ame fatiguée de sa destinée. L’imagination des hommes du nord s’élance au-delà de cette<br />

terre dont ils habitoient les confins; elle s’élance à travers les nuages qui bordent leur<br />

horizon, et semblent représenter l’obscur passage de la vie à l’éternité. 21<br />

Die Begeisterung für das, was Mme de Staël hier als die „littérature du nord“<br />

umschreibt, ist deutlich zu vernehmen, und die Autorin formuliert ihre Präferenz<br />

auch ganz ausdrücklich: „Toutes mes impressions, toutes mes idées me portent de<br />

préférence vers la littérature du nord“ (ebd). Dabei handele es sich aber nicht nur um<br />

eine ästhetische, sondern auch um eine politische Präferenz, denn das rauhe Klima<br />

des Nordens führe dazu, daß die philosophische Reflexion und die politische Freiheit<br />

die einzigen Vergnügen seien, an denen man sich aufrichten könne. Während die<br />

Bewohner des Mittelmeerraums sich auch unter der Tyrannei immer noch mit dem<br />

milden Klima trösten könnten, sei im Norden die Freiheit unverzichtbar:<br />

La poésie du nord convient beaucoup plus que celle du midi à l’esprit d’un peuple libre.<br />

[…] L’indépendance étoit le premier et l’unique bonheur des peuples septentrionaux. Une<br />

21 Ebd., S. 178–179.<br />

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