Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Als der Abbé das Haus verlassen hat, fragt er seinen Kutscher, wessen Haus er da<br />
gerade verlassen habe.<br />
Sie können es sich denken…<br />
Es handelt sich natürlich um das Haus des Henkers Sanson, dessen Mémoires der<br />
Abbé nun in Händen hält. Der Abbé sei dann 1818 gestorben und die Papiere seien<br />
nach dem Tod in den Besitz der aktuellen Herausgeber gelangt, die nun, nachdem die<br />
Familie von Sanson der Publikation zugestimmt haben, die Erinnerungen des<br />
Henkers Ludwigs XVI. endlich der Öffentlichkeit übergeben können. Balzac hat diese<br />
Einleitung, die die Authentizität der Mémoires durch eine Fiktion beglaubigen soll,<br />
später überarbeitet, den Schlußteil entfernt, der die Verbindung zur Publikation von<br />
1830 herstellen sollte, und den <strong>Text</strong> schließlich 1846 unter dem Titel „Un épisode<br />
sous la Terreur“ in die Abteilung der Scènes de la vie politique seiner Comédie<br />
humaine aufgenommen.<br />
Der pathetische Nachdruck, mit dem Balzac die Authentizität der Memoiren des<br />
Henkers behauptet, wird durch den so offensichtlich fiktionalen Rahmen, in dem die<br />
Behauptung steht, für den heutigen Leser sofort fragwürdig. Die letzten Jahre der<br />
Restauration hatten allerdings einen Boom historischer Memoiren erlebt, von denen<br />
ein großer Teil von spezialisierten Verlagen regelrecht fabriziert wurde. Der großen<br />
Publikumsnachfrage entsprachen die Verlage, indem sie die Memoiren von Zeugen<br />
aller großen Höfe von dem Ludwigs XIV bis zu dem Napoleons entweder schlicht<br />
erfinden ließen – dazu sollten die angeblichen Autoren natürlich schon möglichst<br />
lange gestorben sein – oder indem sie Lohnschreiber engagierten, die sich mit noch<br />
lebenden Zeitzeugen unterhielten oder etwaige Dokumente, die ihnen diese<br />
Zeitzeugen überließen – meistens Briefe – zu zusammenhängenden Memoiren<br />
ausschrieben. Balzac war 1829 ein solcher Lohnschreiber, der sich für den Verleger<br />
Louis Mame mit der Familie Sanson getroffen und vermutlich die Memoiren des<br />
Henkers in Teilen oder ganz geschrieben hat.<br />
Weitere Mémoires historiques diesen Stils sind die des Mörders Pierre-François<br />
Lacenaire, die des ehemaligen Verbrechers und späteren Polizeichefs Vidocq, die<br />
Memoiren von Mme Pompadour und von diversen weiteren Geliebten Ludwigs XV,<br />
um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die Verbindung von „culte du moi“ und „culte<br />
de l’histoire“ konnte also sehr erstaunliche Resultate hervorbringen, und machte<br />
gleichzeitig aber auch die Authentizität, die alle Erinnerungsschreiber behaupten, zu<br />
einem fragwürdigen Kriterium.<br />
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