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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

daß Frankreich überhaupt keine neuen Anregungen brauche, weil die Imitation der<br />

Antike der einzig akzeptable Weg sei; bei Chateaubriand und seinem Umfeld war die<br />

Position eher, daß eine christliche Rückbesinnung auf die eigene Tradition,<br />

besonders die des 17. Jahrhunderts, auch ohne Anleihen bei der nordeuropäischen<br />

<strong>Romantik</strong> eine angemessene literarische Antwort auf die sentimentalen und<br />

spirituellen Bedürfnisse der nachrevolutionären Gesellschaft bieten würde, die<br />

Synthese von Ossian und Homer, die Chateaubriand im „Vague des passions“-Kapitel<br />

skizziert hatte.<br />

Ein Punkt, in dem sich beide Positionen berührten, war die gesteigerte Reflexivität<br />

der neuen Literatur: Wenn alle Gefühle und alle Seelenzustände schon einmal<br />

literarisch durchlebt worden waren, konnte man sich über die Erfüllung seiner<br />

„désirs“ keine Illusionen mehr erlauben, wie wir letzte Woche gesehen hatten. Eine<br />

unendliche und prinzipiell unstillbare Sehnsucht war die Reaktion auf die immer<br />

schon enttäuschten Hoffnungen. Selbstreflexion und Selbstanalyse sind sowohl für<br />

den Chateaubriand von 1800 als auch für Mme de Staël in De l’Allemagne die<br />

entscheidenden Merkmale der modernen, romantischen Literatur gegenüber der<br />

Antike. Die Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung, die<br />

Friedrich Schiller in den 1790er Jahren formuliert hatte, geht prinzipiell in dieselbe<br />

Richtung. Chateaubriand hatte schon 1800 die Auswirkungen des Christentums auf<br />

die Fähigkeit zur psychischen Selbstanalyse notiert:<br />

[…] il résulte de là que nous devons découvrir dans les passions des choses que les anciens<br />

n’y voyaient pas, sans qu’on puisse attribuer ces nouvelles vues du cœur humain à une<br />

perfection croissante du génie de l’homme.<br />

Ganz ähnlich formulierte nun Mme de Staël im Kapitel über klassische und<br />

romantische Dichtung in De l’Allemagne. Sie spricht dort von einer „réflexion<br />

inquiète“, die den modernen Menschen so verzehre wie Prometheus im Mythos vom<br />

Geier angefressen worden sei. Diese „réflexion inquiète“ wäre in der Antike noch<br />

einfach als Geisteskrankheit beurteilt worden, während sie für die Moderne und ihre<br />

Literatur geradezu charakteristisch geworden sei. 43 Auch Mme de Staël setzt, wie<br />

Chateaubriand in der eben gesehenen Formulierung, die Erforschung des „cœur<br />

humain“ gegen die antike Vorstellung von der Seele:<br />

43 Vgl. De l’Allemagne II, 11 (GF-Ausgabe Bd. 1, S. 212): « L’événement était tout dans l’antiquité, le<br />

caractère tient plus de place dans les temps modernes ; et cette réflexion inquiète, qui nous dévore<br />

souvent comme le vautour de Prométhée, n’eût semblé que de la folie au milieu des rapports clairs<br />

et prononcés qui existaient dans l’état civil et social des Anciens. »<br />

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