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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

14.12.2010<br />

Wir hatten in der letzten Woche die Handlung von Mussets Confession d’un enfant<br />

du siècle zusammengefaßt und dabei einen auffälligen Kontrast zwischen dem<br />

historischen Ton des zweiten Kapitels des ersten Teils und der anschließenden<br />

Romanhandlung festgestellt. Nach der sehr ausführlichen Schilderung des<br />

historischen und literarischen Klimas, in dem die „enfants du siècle“ unter dem<br />

Empire und zu Beginn der Restauration aufwachsen, nach der Nennung von präzisen<br />

Daten und Namen (der Kaiserkrönung, bei der Napoleon den Papst nach Paris<br />

kommen ließ und ihm dann die Krone aus der Hand nahm, um sie sich selbst<br />

aufzusetzen; Schlachten des Kaiserreichs, Ägypten, Moskau, Goethe und Byron mit<br />

ihren Werken Werther, Faust und Manfred), erfolgt die eigentliche Erzählung in<br />

einem praktisch undatierten und von den historischen Einflüssen auf den ersten<br />

Blick vollkommen unberührten Vakuum.<br />

Es ließe sich aber auch argumentieren, daß das historische Eingangskapitel nur<br />

die Zeit von etwa 1805 bis 1820 beschreibt, und daß die folgende Romanhandlung in<br />

der Zeit danach angesiedelt ist, in der die lebensunfähigen ‚Kinder des Jahrhunderts‘<br />

in einer historisch unbestimmten Zeit eines ‚Dazwischen‘ leben müssen: das Alte ist<br />

unwiederbringlich vergangen, aber das Neue ist noch nicht in Sicht:<br />

Toute la maladie du siècle présent vient de deux causes ; le peuple qui a passé par 93 et<br />

1814 porte au cœur deux blessures. Tout ce qui était n’est plus ; tout ce qui sera n’est pas<br />

encore. Ne cherchez pas ailleurs le secret de nos maux. (317)<br />

Die Kritik hat sich gefragt, warum die Julirevolution von 1830 in diesem 1836<br />

erschienenen Roman nicht auftaucht (Pierre Barbéris: Le Prince et le Marchand.<br />

Paris: Fayard 1980), aber das ist aus mindestens zwei Gründen eine unsinnige Frage:<br />

erstens ist der Autor ja nicht verpflichtet, alle zeithistorischen Ereignisse angemessen<br />

zu berücksichtigen, seien sie auch noch so wichtig,<br />

und zweitens erlaubt uns die historische Vagheit der Handlung gar nicht zu sagen,<br />

ob wir uns bereits nach 1830 befinden, oder ob sich nicht die gesamte Diegese auch<br />

um 1825 abspielen könnte.<br />

Man könnte auch versuchen, den Roman stärker zu machen als er üblicherweise<br />

gelesen wird und gerade das auf den ersten Blick unbefriedigende Ungleichgewicht<br />

als Teil des Konzepts zu erklären versuchen. Die Geschichtslosigkeit des Hauptteils<br />

wäre dann auch ein Ausdruck der Krankheit und eine Reaktion auf die Übersättigung<br />

mit Geschichte, der diese „enfants du siècle“ in ihrer Kindheit ausgesetzt waren.<br />

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