125 JahreSektion Gera (6,86 MB)
125 JahreSektion Gera (6,86 MB)
125 JahreSektion Gera (6,86 MB)
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
war es wirklich nicht leicht, den richtigen<br />
Einschnitt zu fi nden. Überall waren<br />
Klüfte, Risse und Wandstufen. Eines sah<br />
aus wie das andere. Ein Chaos von Fels,<br />
welches sich in die Höhe türmte. Im weiteren<br />
erinnere ich mich an eine Folge von<br />
Kaminen, Rissen und Wendeln. Manchmal<br />
hatte ich den Eindruck, dass es kein<br />
Fehler wäre, das Seil herauszuholen. Da<br />
aber die beiden anderen nichts sagten,<br />
unterblieb es. Wir gewannen sehr rasch<br />
an Höhe. Noch nie hatte ich die Welt<br />
aus dieser Perspektive gesehen. Breite<br />
Bänder und Vorsprünge verschwanden<br />
nach unten, wurden mit der steigenden<br />
Höhe von anderen Gebilden dieser Art<br />
überlagert. Da man die Vorsprünge sah<br />
und nicht die senkrechten Stufen dazwischen,<br />
wirkte es eigentlich gar nicht so<br />
furchtbar, bis aus Versehen eine Steinplatte<br />
losgetreten wurde. Sie rutschte,<br />
stürzte, schlug auf, sprang aus der Wand<br />
heraus, im Zickzack in immer größeren<br />
Sätzen in die Tiefe, wurde kleiner und<br />
verschwand hundert Meter tiefer in einer<br />
Rinne, weiteren Schutt mitreißend und<br />
den Weg aufzeichnend, den hier jeder<br />
unbarmherzig nehmen musste, der den<br />
Halt verlor. Erst nach vielen Sekunden<br />
verklang das Krachen der letzten Aufschläge.<br />
Die Wand war ernst zu nehmen,<br />
das war ein eigenes Gefühl. Der See, ein<br />
fl aches Oval zuerst, nahm immer mehr<br />
Kreisgestalt an. Die Schutthalde am<br />
Fuße der Wand erschien wie eine ebene<br />
Kreisfl äche. Die umstehenden Berge<br />
verloren ihre überragende Höhe. Kamine<br />
mit Rucksack zu klettern, bot ein ganz<br />
neues „Klemmgefühl“. Später, an einer<br />
40-Meter-Unterquerung bekamen wir<br />
Orientierungsschwierigkeiten. Wo war<br />
die Querung? An rötlichen Felsen! Wo<br />
waren hier rötliche Felsen? Doch wir fanden<br />
uns durch. Wieder ging es aufwärts,<br />
bis zu einem Gemsenband, welches die<br />
ganze Wand durchzieht. Ein eindeutiger<br />
Orientierungspunkt. Nun nach links<br />
zum berühmten Pfeiler. Hier im leichten<br />
Gelände rannte Karl-Heinz wieder wie<br />
von Furien gehetzt, wir keuchend hinterdrein.<br />
In der Gipfelwand war fester, steiler<br />
Fels. Man konnte hier überall klettern.<br />
Und das beherrschten wir.<br />
5 ½ Stunden nach dem Aufbruch vom<br />
Gasthaus traten wir aus dem kalten<br />
Schatten der Nordwand auf den sonnenbestrahlten<br />
Gipfel. Selten habe ich einen<br />
Gipfelsieg wieder so empfunden wie damals.<br />
Wir freuten uns wie die Kinder. Zu<br />
unseren Füßen der bodenlose Abgrund,<br />
dem wir entstiegen waren. Tief unten die<br />
dunkelblaue Fläche des Sees, sattgrüne<br />
Wälder, aus der Höhe wie Moos aussehend,<br />
zogen sich kilometerweit talwärts,<br />
um uns ein unbeschreiblich großartiges<br />
und umfassendes Hochgebirgspanorama.<br />
Und über uns der dunkelblaue Himmel.<br />
Der Berggeist hatte es auch wirklich<br />
gut mit uns gemeint bei unserem ersten,<br />
ernstzunehmenden Schritt in sein Reich.<br />
Es hätte auch anders kommen können.<br />
Ich kann mir schlecht vorstellen, was<br />
geworden wäre, wenn uns, in vielem<br />
noch ahnungslos, ein sattes Mistwetter<br />
in halber Wandhöhe erwischt hätte. So<br />
aber standen wir voll Freude und Glückseeligkeit<br />
auf dem Turm, gegen den der<br />
berühmte des alten Babylon ein kümmerlicher<br />
Dreckhaufen war, und waren<br />
außerdem von außen auf ihn geklettert.<br />
Der Abstieg war eine Fleißaufgabe. Der<br />
Westgrat war noch Kletterei, aber dann<br />
wurde es niveaulos, poltern, stauchen,<br />
stolpern. Unten rückte unsere Wand wieder<br />
in ihrer ganzen Größe und Wucht ins<br />
Blickfeld. Wir sahen sie jetzt mit ganz anderen<br />
Augen. Karl-Heinz meinte: „Und<br />
wenn der ganze weitere Urlaub jetzt im<br />
Eimer wäre, er wäre nicht nutzlos gewesen.<br />
Die Wand hat mir alles geboten.“<br />
Manfred Gohlke (1961)<br />
121