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125 JahreSektion Gera (6,86 MB)

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war es wirklich nicht leicht, den richtigen<br />

Einschnitt zu fi nden. Überall waren<br />

Klüfte, Risse und Wandstufen. Eines sah<br />

aus wie das andere. Ein Chaos von Fels,<br />

welches sich in die Höhe türmte. Im weiteren<br />

erinnere ich mich an eine Folge von<br />

Kaminen, Rissen und Wendeln. Manchmal<br />

hatte ich den Eindruck, dass es kein<br />

Fehler wäre, das Seil herauszuholen. Da<br />

aber die beiden anderen nichts sagten,<br />

unterblieb es. Wir gewannen sehr rasch<br />

an Höhe. Noch nie hatte ich die Welt<br />

aus dieser Perspektive gesehen. Breite<br />

Bänder und Vorsprünge verschwanden<br />

nach unten, wurden mit der steigenden<br />

Höhe von anderen Gebilden dieser Art<br />

überlagert. Da man die Vorsprünge sah<br />

und nicht die senkrechten Stufen dazwischen,<br />

wirkte es eigentlich gar nicht so<br />

furchtbar, bis aus Versehen eine Steinplatte<br />

losgetreten wurde. Sie rutschte,<br />

stürzte, schlug auf, sprang aus der Wand<br />

heraus, im Zickzack in immer größeren<br />

Sätzen in die Tiefe, wurde kleiner und<br />

verschwand hundert Meter tiefer in einer<br />

Rinne, weiteren Schutt mitreißend und<br />

den Weg aufzeichnend, den hier jeder<br />

unbarmherzig nehmen musste, der den<br />

Halt verlor. Erst nach vielen Sekunden<br />

verklang das Krachen der letzten Aufschläge.<br />

Die Wand war ernst zu nehmen,<br />

das war ein eigenes Gefühl. Der See, ein<br />

fl aches Oval zuerst, nahm immer mehr<br />

Kreisgestalt an. Die Schutthalde am<br />

Fuße der Wand erschien wie eine ebene<br />

Kreisfl äche. Die umstehenden Berge<br />

verloren ihre überragende Höhe. Kamine<br />

mit Rucksack zu klettern, bot ein ganz<br />

neues „Klemmgefühl“. Später, an einer<br />

40-Meter-Unterquerung bekamen wir<br />

Orientierungsschwierigkeiten. Wo war<br />

die Querung? An rötlichen Felsen! Wo<br />

waren hier rötliche Felsen? Doch wir fanden<br />

uns durch. Wieder ging es aufwärts,<br />

bis zu einem Gemsenband, welches die<br />

ganze Wand durchzieht. Ein eindeutiger<br />

Orientierungspunkt. Nun nach links<br />

zum berühmten Pfeiler. Hier im leichten<br />

Gelände rannte Karl-Heinz wieder wie<br />

von Furien gehetzt, wir keuchend hinterdrein.<br />

In der Gipfelwand war fester, steiler<br />

Fels. Man konnte hier überall klettern.<br />

Und das beherrschten wir.<br />

5 ½ Stunden nach dem Aufbruch vom<br />

Gasthaus traten wir aus dem kalten<br />

Schatten der Nordwand auf den sonnenbestrahlten<br />

Gipfel. Selten habe ich einen<br />

Gipfelsieg wieder so empfunden wie damals.<br />

Wir freuten uns wie die Kinder. Zu<br />

unseren Füßen der bodenlose Abgrund,<br />

dem wir entstiegen waren. Tief unten die<br />

dunkelblaue Fläche des Sees, sattgrüne<br />

Wälder, aus der Höhe wie Moos aussehend,<br />

zogen sich kilometerweit talwärts,<br />

um uns ein unbeschreiblich großartiges<br />

und umfassendes Hochgebirgspanorama.<br />

Und über uns der dunkelblaue Himmel.<br />

Der Berggeist hatte es auch wirklich<br />

gut mit uns gemeint bei unserem ersten,<br />

ernstzunehmenden Schritt in sein Reich.<br />

Es hätte auch anders kommen können.<br />

Ich kann mir schlecht vorstellen, was<br />

geworden wäre, wenn uns, in vielem<br />

noch ahnungslos, ein sattes Mistwetter<br />

in halber Wandhöhe erwischt hätte. So<br />

aber standen wir voll Freude und Glückseeligkeit<br />

auf dem Turm, gegen den der<br />

berühmte des alten Babylon ein kümmerlicher<br />

Dreckhaufen war, und waren<br />

außerdem von außen auf ihn geklettert.<br />

Der Abstieg war eine Fleißaufgabe. Der<br />

Westgrat war noch Kletterei, aber dann<br />

wurde es niveaulos, poltern, stauchen,<br />

stolpern. Unten rückte unsere Wand wieder<br />

in ihrer ganzen Größe und Wucht ins<br />

Blickfeld. Wir sahen sie jetzt mit ganz anderen<br />

Augen. Karl-Heinz meinte: „Und<br />

wenn der ganze weitere Urlaub jetzt im<br />

Eimer wäre, er wäre nicht nutzlos gewesen.<br />

Die Wand hat mir alles geboten.“<br />

Manfred Gohlke (1961)<br />

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