Husserl_Vorlesungen_zur_Phaenomenologie_des_inneren_Zeitbewusstseins
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9] Vorlefungen <strong>zur</strong> Phänomenologie <strong>des</strong> <strong>inneren</strong> Zeitbewußtfeins. 375<br />
Melodie erklingt, fo verfchwindet der einzelne Ton nicht völlig mit<br />
dem Hufhören <strong>des</strong> Reizes bzw. der durch ihn erregten Nerven»<br />
bewegung. Wenn der neue Ton erklingt, ift der vorangegangene<br />
nicht fpurlos verfchwunden, fonft wären wir ja auch unfähig, die<br />
Verhältniffe aufeinanderfolgender Töne zu bemerken, wir hätten in<br />
jedem Fiugenblick einen Ton, evtl. in der Zwitchenzeit zwifchen<br />
dem finfchlag zweier Töne eine leere Phafe, niemals aber die Vor»<br />
ftellung einer Melodie. /indererfeits hat es mit dem Verbleiben der<br />
Tonvorftellungen im Bewußtfein nicht fein Bewenden. Würden fie<br />
unmodifiziert bleiben, dann hätten wir ftatt einer Melodie einen<br />
IUkord gleichzeitiger Töne oder vielmehr ein disharmonifcbes Tongewirr,<br />
wie wir es erhalten, wenn wir alle Töne, foweit fie bereits<br />
erklungen find, gleichzeitig anfd)lagen. Erft dadurch, daß<br />
jene eigentümliche Modifikation eintritt, daß jede Tonempfindung,<br />
nachdem der erzeugende Reiz verfffiwunden ift, aus fich felbft heraus<br />
eine ähnliche und mit einer Zeitbeftimmtheit verfehene Vorftellung<br />
erweckt, und daß diele zeitliche Beftimmtheit fich fortgefee<br />
ändert, kann es <strong>zur</strong> Vorftellung einer Melodie kommen, in welcher<br />
die einzelnen Töne ihre beftimmten Pläne und ihre beftimmten Zeitmaße<br />
haben.<br />
Es ift alfo ein allgemeines Geten, daß an jede gegebene Vor»<br />
ftellung fich von Natur aus eine kontinuierliche Reihe von Vorfiellungen<br />
anknüpft, wovon jede den Inhalt der vorhergehenden reproduziert,<br />
aber fo, daß fie der neuen ftets das Moment der Vergangenheit<br />
anheftet.<br />
So erweift fid) hier die Leantafle in eigentümlicher Weife als<br />
produktiv. Es liegt hier der einzige Fall vor, wo fie in Wahrheit<br />
ein neues Moment der Vorftellungen tchafft, nämlich das Zeitmoment.<br />
So haben wir auf dem Gebiet der Pfmutete den Urfptung der<br />
Zeitvorftellungen entdeckt. Die Pfychologen bis auf Brentano haben<br />
fich vergeblich bemüht, die eigentliche Quelle diefer Vorftellung<br />
aufzufinden. Es lag dies an einer allerdings nahe liegenden Vermitchung<br />
von fubjektiver und objektiver Zeit, welche die ptycho.<br />
logifcben Forfcher beirrte und fie das eigentliche Problem, das hier<br />
vorlag, garnicht fehen ließ. Viele meinen, die Frage nach dem<br />
Urfprung <strong>des</strong> Zeitbegriffs fei nicht anders zu beantworten als die<br />
nach dem Urfprung unterer Begriffe von Farben, Tönen ufw. So<br />
wie wir eine Farbe empfinden, fo empfinden wir auch die Dauer<br />
der Farbe; wie Qualität und Intenfität, fo fei auch zeitliche Dauer<br />
ein immanentes Moment der Empfindung. Der äußere Reiz errege<br />
durch die Form der phyfifchen Prozeffe die Qualität, durch ihre