122zwischen meinem Heimatland und der oberrheinischen Männerprovinz gewesen. Es war einesjener Internate für die Kleineren, welches dem Besuchsrecht unterlag, denn eine Frauenwelt isteine heile Welt und Keiner war daran gelegen, den Übergang aus dem Frauenbereich zumMännerland für die Jungen hart oder abrupt zu gestalten. Das eigentliche Internat mitKlassenräumen, kleinen Wohneinheiten für Erzieherinnen, Schüler, Ausbilder und Werkstätten,war auf dem Gelände einer alten, hoch patriarchalen Burg gelegen, von der sogar noch einBergfried, Teile der begehbaren Umfassungsmauern und ein Wohntrakt durch all die Wirren derspät- und nachpatriarchalen Zeiten erhalten geblieben war. Die Jungens lebten in Gruppen auscirca fünf bis sieben Individuen in kleinen Pavillons, noch betreut von Erzieherinnen, die täglichüber die Grenze pendelten, während ihre gesamte Schul- und Arbeitsausbildung nun in denHänden von Männern lag, um sie so allmählich an das Leben in den Provinzen zu gewöhnen. Dieerhöhte Lage der Burg bot den Jungen ausserdem den Blick frei, sowohl zurück über die Grenzein das Frauenland, aus dem sie stammten, <strong>als</strong> auch voraus in die Flussebene hinab in ihrzukünftiges Heimatland der Männerprovinz. In einem solchen Übergangsinternat für diekleineren Jungens waren alle Emotionen aus Heimweh, Trauer, Alleinesein gestattet, denn dieFrauenwelt möchte niemandem weh tun, und auch die Jungen, die zukünftigen Männer, zuwertvollen Mitgliedern der Gemeinschaft formen. Es oblag den Erzieherinnen, diesebegreiflichen Gefühle der kleineren Jungen aufzufangen, anzunehmen und zu heilen, denn nichtslag der Frauenwelt ferner, Männer heranzuziehen, die nicht mehr zu weinen vermögen, diekeinen Schmerz und keine Sehnsucht kennen und <strong>als</strong> gepanzerte Rohbeine herumlaufen, anfälligfür jeden kriegerischen Wahn, wie sie eben das Kennzeichen der patriarchalen, gefühlskaltenEpochen gewesen waren.Hinter der Burg erstreckten sich die ersten Weinberge der oberrheinischen Tiefebene, unterhalb,nördlich eines steilen Bergabsturzes, der nur durch eine steile, alte Eisentreppe zu bewältigenwar, zog sich ein kleines, dicht bewaldetes Tal hin, welches die Grenze zwischen den beidenLändern darstellte.Je nach Altersstufe, für die Kleinsten, die 'Frischlinge' zwischen sieben und zehn Jahren jedeWoche, für die '<strong>St</strong>are' zwischen zehn und dreizehn Jahren monatlich und die Pubertierendenvierteljährlich, gab es die Besuchstage. Die Jungen stiegen die Leiter ins Tal herab und wurdenfür zwei Tage jenseits davon in einem Haus einquartiert, in dem ihre Mütter oder Grossmütter,Schwestern oder Tanten sie besuchen kamen. Auf diesem Gelände lebten auch die meisten derErzieherinnen, die entweder zu Fuss eine dreiviertel <strong>St</strong>unde Weg durch den Wald und dieEisentreppe hinauf ihren Arbeitsplatz im Internat erreichten, wo sie in <strong>Dr</strong>ei-Tages-Schichten,welche eben auch den nächtlichen Betreuungsdienst mit einschlossen, arbeiteten, oder mitFahrzeugen über eine Umgehungsstrasse fuhren, die sich sanft vom Besuchshaus die Hügelherunterschlängelte und in so weitläufigen Kurven auf der anderen Seite wieder zur Internatsburghinauf, dass die Frauen diese <strong>St</strong>recke sogar mit guten, mehrgängigen Pedalfahrzeugen bewältigenkonnten. Auch die Ausbilder konnten von dieser Besuchseinrichtung Gebrauch machen. So kames, dass wir in meiner Kindheit häufiger einige Tage am Rande der Männerprovinz zusammenmit meinem Tate Martin verbrachten, der ein mindestens ebenso rasches Mundwerk wie meineMutter besass und kleine, glitzernde Äuglein, die schon früh von vielen lebhaften Fältchenumgeben waren. Da Tate Martin auch zeitweilig <strong>als</strong> Besamer durch die Provinzen reisen durfte,hatte er uns sogar ein paar Mal in der Sippenstrasse besucht. Allerdings erinnere ich mich vage aneine Art Schleier, die über diesen Besuchen lag, Blickwechseln zwischen ihm und meiner Mutter,leises Seufzen und ausweichende Antworten auf unsere Fragen, warum er denn immer wenigerins Frauenland zu Besuch käme?
123"Wann hast du das letzte Mal geschrieben, ich meine, wirklich geschrieben?" Shulamithschaute mich forschend an. Wir sassen in ihrem Untersuchungsraum bei der Sitzeckemit dem Heisswasserboiler, Hannah lag, eher <strong>als</strong> dass sie sass, mit hochgelegtenFüssen, in eine Decke eingemummelt, auf dem niedrigen Sofa, Jan-San hielt ihre Füsseim Schoss und massierte sie Gedanken verloren."Richtig lange? <strong>St</strong>undenlang mit mir alleine, den Gestalten, dem Papier? In der Villa."Ich wich verlegen Shulamiths Blicken aus und fühlte meine Hände leer und weiss wieungeschriebenes Papier."Wie hast du das ausgehalten?" Hannah schob sich hoch und bedeutete Jan-San, ihreFüsse zu lassen."Was? Die einsame Villa oder das monatelange Nicht-Schreiben?""Beides.""Ich wollte mein ganzes Schreiberinnendasein nie wahrhaben, dass frau einsam undalleine sein muss, um wirklich produktiv zu sein. Ich wollte ins Leben rein, Frauensehen, mich für Dinge interessieren, für etwas einsetzen. Doch im Moment ist es hierwie ein Sog, der immer rasender und rascher wird und mich auf ein Loch zusaugt. Ichglaube, ehe ich nicht weiss, was hinter diesem Loch ist, kann ich nichts mehr schreiben:Keine spannenden Geschichten und -" Ich lächelte Shulamith schief an. "auch keineLiebesgedichte.""Doch du möchtest gerne schreiben." Sie legte mir die Hand auf den Arm."Das ist gar keine Frage. Ich wünsche mir Ruhe, und Gesellschaft zugleich, Gänge überLand und einen guten Schreibtisch an einem Fenster. Küsse und Einsamkeit!""Warte doch auf uns und schreibe in der Zeit!" Jan-San schaute mich mit seinemSiedlerblick an, hinter dem eigentlich die grosse Bitte lag, zu bleiben, zu vergessen, Zeitzu gewinnen. Aber sowohl Hannah <strong>als</strong> auch Shulamith lachten nur leise und warfen sichBlicke zu."Unser Kind ist ihr doch nur ein Nebenthema. Jan-San und ich gebrauchen JohannasEnergie, damit wir es so jung so schnell wie möglich, wieder sehen!""Vielleicht aber brauche ich auch deine Frage, Hannah, um mich weiterzuschleppen?Vielleicht reichen Neugierde und Sehnsucht alleine nicht mehr aus, mich auf dieses Lochzu zu bewegen. Es braucht Gründe ausserhalb von mir, denn der Anblick wirdschrecklich sein und das Ende offen."Vor dem Fenster verschwammen Tannen und Nacht in einer schwarzen Wand. Einplötzlicher Blitz zerriss den Vorhang, ich meinte, etwas zu spüren oder zu greifen, eheich es halten konnte, ein Gefühl, das auftauchte und verschwand, <strong>als</strong> wäre ein Geist aufleisen Vogelschwingen durch den Raum geschwebt."Was hast du gesagt?" Jan-San rutschte unwillkürlich auf dem Sofa vor. Er fasste meineKnie, während Shulamith mich von der anderen Seite her am Arm rüttelte."Hey - wach' auf! Was hast du gesagt?" Ich schüttelte den Kopf und löste meine Augenvon der schwarzen Nachtwand hinter dem spiegelnden Glas."Ich weiss es nicht. Was war das? War was?""Du warst für einen Moment fort und hast kryptisch geredet!" Hannah tastete nachihrem Kopf, was beide Liebenden oft in diesen Tagen unbewusst taten, um zu spüren,wie ihre Haare allmählich wieder die weichen, längeren Formen annahmen."Als ich eine Elevin war, übte ich solche Zustände bewusst ein. Es ist nicht gut, wenn sie
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