142Ich erinnere mich an Jakob und Sascha und das seltsame Gefühl, das mir fatalerlesbischer Doppelmörderin tatsächlich rote Ohren machte, <strong>als</strong> sich das erste Mal zweiMänner nur einen halben Meter von mir entfernt in einem engen Fahrzeug küssten, dasses schmatzte.Die Verwirrung ob ihrer klaren Arbeitsteilung: Sascha trug das Gepäck beider Männer,kochte und schliss unser Feuerholz, um Jakobs Hände zu schonen, während Jakob, anden einsamen nächtlichen Waldlagerfeuern oder auch in den Hütten der Gastgeber,fröhliche Geschichten erzählte: Aus seinen gar nicht so grossen aber sehr breiten,feingliederigen Händen entstiegen längst versunkene Geschichtengestalten:Chassidische Zaddikim aus einem Osteuropa, dass lange vor unserenFrauenrevolutionen durch die schlimmste Art des Patriarchats vernichtet worden war,polnische Rabbiner und ihre keifenden Ehefrauen, lärmende Purimgelage jiddischer<strong>St</strong>ädtel oder Kerzenschein getragene Sabbatfeste wohl situierter Bürgerfamilien. Oder ersang uns, dabei auf einer runden Schamanentrommel wirbelnd, Heimatlieder derHibernier vor, irische Liebeslieder, Lieder vom ewigen Aufstand der freiheitsdurstigenIren, von den grünen Wiesen und Hügeln einer zauberhaften Insel im Norden, um dieseit zwei Generationen eine so totale Nachrichtensperre lag, dass kein Mensch wusste,wie und wer dort eigentlich lebte oder gar regierte. Als hätten ihre Geister extra einenundurchdringlichen Nebel herabgesetzt um durch dieses Versinken im Ungenanntenallen Heimatlosen und Dissidenten zu signalisieren: Es gibt sie noch, die Insel derSehnsucht, das ferne Avalon der Freiheit, Thules Land der unbegrenzten Möglichkeiten.Erinnerungen an das Jahr 90 ( 2090 n. d. Zt. )Ich erinnere mich, erinnere mich an einen Traum, den ich träumte in jener Nacht, <strong>als</strong> der JungeErwin in unseren Armen gestorben war, umgebracht von jenem Menschen und Lehrer, der docheigentlich den Kindern ein Hüter hätte sein sollen und dennoch ihr Mörder wurde."Nehmt die Kinder mit - und mich!" Lautete die letzte Bitte des Jungen. Tatsächlich waren fastalle Familien mit Kindern über das Meer nach Lolland davon gefahren.Träume steigen aus Gegenden auf, die unserem klaren Verstand und der bewussten Erinnerungunzugänglich sind, das ist bekannt. Sie mögen Bilder und Motive aus jenen Jahren verarbeiten,die vor aller Sprache lagen, vor aller Beschreibung in den Zeiten des vegetativen Lächelns undreaktiven Weinens versteckt.Dort liege ich unter einem blauen Himmel, umgeben von zarten, weiss blühenden Baumkronen.Etwas klingt in der Luft, vielleicht das Singen der Frühlingsvögel, denn ich bin im Frühling ausdem Körper meiner Mutter geschlüpft. Ihr Gesang klingt so lieblich, so erfüllt. Die ganze Luft,der ganze Traum atmet diese Schönheit, dieses Glück, die absolute Erfülltheit, diese Freude, dienoch lächelnd in mir nachklingt, <strong>als</strong> ich erwache und begreife, was eigentlich in der Wirklichkeitvon Udars geschehen ist.Ich, das kleine Mädchen, der zufriedene Säugling, die lächelnden Ohren, der gesättigte Mund, diegewärmte, wohl umhüllte Haut liegen inmitten dieser blühenden Bäume und irgendwie beginnendie Augen langsam umherzukreisen, sie wandern von Baumkrone zu Baumkrone, erkennenkleine Unterschiede, schräge Aästchen, zarte, verschieden grosse Blätter in hellen und dunklenGrüntönen.Suchend wandern die Blicke weiter, vielleicht auf der Suche nach diesen wundersam klingenden,kleinen Sängern, aus säuglingshaftem Unwissen heraus, woher diese Süssigkeit kommt, aus
143Neugierde, das Lieblich Klingende ebenso zu Gesicht zu bekommen, wie alle anderenSchönheiten auch.Immer schneller wandern die Blicke, immer heftiger, immer im Kreis.Und plötzlich gesellt sich ein anderes Gefühl dazu, ein seltsam schwereloser Zustand, einkomischer Rausch, von dem die Kleine anscheinend erst einmal nicht ganz genau weiss, ob esBauchweh ist oder Lust.Die träumende Erwachsene beschliesst, dass es Lust sei und dass sie zaubern kann. Nein! Daslernt sie in diesem Moment, <strong>als</strong> sie erkennt, was Lust oder Unlust sei von diesem kleinenMädchen selber und sie lernt, dass sie fliegen kann - immer rund um - rund um an den Kronender weissblütigen Bäume entlang.Das Mädchen lässt die Augen schneller und schneller kreisen, die einzelnen Baumkronenverschwimmen, sie werden zu einer weiss blühenden, grün duftenden Spirale, zu einem sichdrehenden, kreiselnden Wirbel an dessen Grund das fröhlich gesättigte Kind liegt, vielleichtkreischt oder gurgelt oder zappelt aus eigener Lust.Immer schneller lässt die Kleine die Augen kreisen, immer schneller rast die Baumkronenspiraleund das Singen der Vögel wird lauter und rascher und heftiger.Und dann spürt sie, wie sich ihr kleiner, fest eingewickelter Körper vom Boden hebt, wie derWindelpopo nicht mehr das kühle Gras berührt und die Schultern im <strong>St</strong>rickjäckchen das kurzeKissen.Sie hebt sich leise über den Boden und dreht sich selber mit der Macht ihrer Blicke und der Lustder Kreiselspirale - immer schneller - immer schneller - bis sie fliegt, höher und höher. Schon istsie auf der Höhe der Kronenansätze, die <strong>St</strong>ämme liegen schwarz <strong>als</strong> dunkler Trichterrand unterihr, schon fliegt sie, immer im Kreis an den weissen Kronen vorbei und deren zarte Aussenästestreifen ihr liebevoll über das lachende Gesicht.Die Vögel singen und strahlen, eine Sonne schiebt sich gelb über den blauen Himmelshorizont.Dann hat sie die Höhe der obersten Baumspitzen erreicht: Jubelnd streckt das kleine Mädchen dieArme aus, sie braucht die kreisende Spirale nicht mehr und den Antrieb der weissenBaumkronen. Wie ein Blitzzack saust sie waagerecht davon - hin über das Land und hinaus in dieWelt - geradenwegs davon, während weit, weit hinten am Horizont die grosse Schwänin fliegt,ausgebreitet ihre Flügel von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, den Schnabel ruhend am Polund den Schwanz gefächert über den Äquator: Mit klugem Blick und weichen, weissen Federn,bereit, das kleine Mädchen aufzufangen und zu tragen wohin immer es will und die Winde derWelt sie wehen.Es war eine klare, von einer etwas eierigen Fastvollmondin erhellte, kalte Nacht, <strong>als</strong> unsein ungefähr siebzehnjähriger Junge oberhalb der Dorfes Unteruhldingen in Empfangnahm. Sascha und Jakob standen, mit den Armen fröstelnd um sich schlagend amRande der kleinen <strong>St</strong>adt, deren Aussenbezirke im Mondlicht ziemlich verfallen aussahen."Es stimmt, Johanna, dein Onkel hat Recht. Es ist wirklich riskant, mit vier Leuten dieElevinnengärten zu stürmen. Aber nimm es einem verkannten Heldentenor nicht übel,wenn er sich dennoch recht männliche Sorgen um zwei Frauen macht, die bei Nacht undNebel über den See paddeln, um in die allerheiligste Villa einzusteigen."Sascha war hoch genug, Shulamit und mir richtig grossbrüderlich betulich über dieKöpfe zu streicheln."Habt ihr auch Alles, was ihr braucht? Tates Lageplan? Ja? Und du mein Junge? Gehörstdu zu uns, hast von der Geschichte gehört? Du passt gut auf Alles auf?" Jakob zappelte
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