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vollständig als pdf - Dr. Martina Schäfer, St. Gallen

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66Frauen, die Kinder geboren hatten, besassen ausserdem das Recht, an den hohenFesttagen in feierlichen Röcken zu gehen. Ja, zum Elend meiner etwas fülligen Muttererwartete man das geradezu von ihnen und Kleinstmädchen vor ihrem erstenZahnwechsel trugen ebenfalls während der Frühlingsfeiern, die ja unter anderem ihnenspeziell zugewidmet waren, weisse Kleidchen. Aber vor mir im Raum sassen Frauen undjugendliche Mädchen jeglichen Alters in einem weiten Halbrund in langen, vielfarbigenRöcken, einige trugen geblümte und gestreifte Schürzen darüber, den jüngeren reichtendie Röcke bis zu den Waden, während die Säume der älteren bis auf den Bodenschleiften, so dass durch ihre breit auseinander gestellten Beine dunkle, schwere<strong>St</strong>offbuchten entstanden, vor denen kleine, runde Holzapparate standen, deren grossesRad durch ein eifrig getretenes Pedal in Gang gehalten wurde. In den <strong>St</strong>offschössenlagen Haufen hellgrauer Rohwolle, und ich sah, dass durch das Treten und Zwirbeln mitden Händen ein Faden aus dieser Rohwolle gezogen wurde, der oberhalb desSchwungrades auf eine sich ebenfalls drehende Spule gewickelt wurde. Zwei jüngereFrauen, wohl so in Ellas oder meinem Alter hielten mehrere ca. zwanzig Zentimeterlange Nägel in den Händen, und aus Wollebällen zwischen ihren Knien zogen sich Fädenhinauf zu diese Nägeln, aus denen sie mit kunstvollen, flott klappernden Bewegungendicke, warme Gewebe schlangen: Das eine war wohl ein <strong>St</strong>rumpf, doch was aus dergrossen Röhre der zweiten Frau entstehen sollte, konnte ich nicht identifizieren.Ich starrte die Frauengesellschaft mit offenem Mund an. Die sich bewegenden unddrängelnden Männer in Hosen und Bärten waren mir in seltsamer Weise vertrautergewesen wie diese starre Frauengruppe in ihren Röcken, deren einzige Bewegung dasTreten der Pedale und das Klicken der Wollenägel waren. Ihre Körpersprache war mirfremder, exotischer <strong>als</strong> das Hocken, Kaffeetrinken und auf die Schulternschlagen derMänner, und ich kratzte mich unwillkürlich verlegen am Kopf, <strong>als</strong> ich ihnen sounvermittelt gegenübertrat.Laura setzte sich wieder auf einen <strong>St</strong>uhl hinter ihr Pedalrad, nahm die Rohwolle auf undbegann zu zwirbeln, während Ella verlegen hinter mir hüstelte und dann sagte:"Schau mal, da neben dem Kardgerät auf dem Tisch liegen deine Kleider. Such' dir wasaus. Du kannst dich sicher nebenan umziehen, ehe wir dir Löcher in den Bauch fragen."Ich wandte mich verwirrt zu ihr um, und plötzlich sah ich in ihren Augen ein seltsamesFlehen und Abwinken: Frag' mich nicht, tu' selber etwas, wir haben keinen Ausweg! Undmit einem kurzen Kopfnicken fuhr sie fort: "Ich gehe zurück und ziehe mich um, bisgleich!" Sie presste die Mundwinkel zusammen und war den Gang hinuntergelaufen, eheich etwas antworten konnte."Na ja, ein sauberer Pulli und eine neue Hose wären nicht schlecht" murmelte ich vollerVorahnungen und ging quer durch den Kreis der tretenden, klickenden und michschweigend betrachtenden Frauen auf das Bündel neben dem Gerät mit den vielenkleinen Nägelchen zu. Ich zog die Röcke, Socken, Unterhosen, Hemden, Pullover undBlusen auseinander: Es gab tatsächlich keine langen Hosen dabei! Ich wandte mich denFrauen langsam wieder zu. Die hatten ihre jeweilige Arbeit gelassen, eine merkwürdige<strong>St</strong>immung breitete sich in dem Raum aus, während mich die sieben Frauenerwartungsvoll anstarrten. Ich räusperte mich kurz und begann:"Da, wo ich herstamme, sind Röcke allein dem spiri-, äh, religiösen <strong>St</strong>and vorbehalten.Normalfrauen tragen sie nur an hohen Festtagen."

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