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vollständig als pdf - Dr. Martina Schäfer, St. Gallen

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141Dämmerung unter den Tannen schimmerte. Über Hinterhöfe und Treppen, inverwinkelte, halb zerfallene <strong>St</strong>ädtchen kletternd, von den Hängen herabgeführt inkleine, altmodisch eingerichtete Küchen, wo ältere Lehrer in abgewetzten CordjackenLinsensuppen oder Nudelaufläufe vor unsere erschöpften Körper setzten und uns mitkurzen Worten zum Essen aufforderten.Das geflüsterte Hin und Her unserer beiden Führer Sascha und Jakob, die es sich nichtnehmen lassen wollten, uns persönlich an den Seerand zu führen, mit unserenGastgebern, da der kleine Cellist und der grosse Impressario gleichzeitig <strong>als</strong> Boten oderOrganisatoren wirkten: Während wir von den Waldrändern her einstiegen, brachenvorne in den <strong>St</strong>rassen die Kranken auf, die Infizierten und ihre Begleiter, um heimlich,nachts in kleinen Fahrzeugen nach Norden zu ziehen. Der Sammelpunkt war eine alteBurgruine, am Eingang der oberrheinischen Tiefeben gelegen, zu Füssen der erstenAusläufer des Schwarzenwaldes in der Nähe von Onkel Tates Knabeninternat.Oft erwachten wir auf unseren provisorischen Nachtlagern in Abstellkammern oder aufWohnzimmersofas, hörten die gedämpften Worte, das leise Anfahren, dieAbschiedsworte, die für einige von ihnen die Ewigkeit bedeuten würden. Kopfschüttelndvernahmen die Bauern in den Küchen unsere Geschichte, strichen sich die Lehrerbesorgt übers Haar, tippte sich ein Bäcker, der uns mit eigens gebackenenRosinenbrötchen voll stopfte und uns in der Backstube schlafen liess, an die <strong>St</strong>irn."Ja, die Sage eilt euch voraus! Ihr wollt ein Baby aus der Mainau stibitzen! Schade,warum verwendet ihr eure Kraft nicht auf etwas anderes, die Revolution oder so!"Er warf ein Rosinenbrötchen in die Luft, und ich fing es lachend auf."Vielleicht ist das die Revolution, Wünsche und Ängste der Menschen ernst zu nehmen?"Ich erinnere mich an die Nächte in fremden Zimmern, in alten Waldhütten, an unsereMüdigkeiten, an Shulamiths schlanken Körper, der mir gegenüber schwieg, an ihreschwarzen, grossen Augen, die das Gesicht im Dunkeln wie die helle Begrenzung fürdiese Augen aussehen liess. Ihr ganzer Körper war unter solchen Anstrengungennurmehr Rand für diese Augen. Oft schien es mir, <strong>als</strong> habe sie gar keine Hände, keineFüsse, keinen sehr grossen Leib, nur diese grossen Augen, die mich jedes Mal zu fragenschienen: Kommst du wirklich zurück, wenn du sie gesprochen hast? So dass meineBlicke über die Wand liefen, Astlöcher zählten und eine Kappe über meine Ängstezogen.Ich erinnere mich an diese Flucht-Wanderzeit, dieses Laufen zwischen Leben und Tod,vom Leben dieses Mal zum Tod, der vielleicht schon irgendwo da vorne, im Süden,unschuldig und mutterlos in seiner Wiege auf der Hibiskusinsel ruhte, ganz sicher aber,wenn Mayas Augen wieder auf meine träfen, die Augen einer Frau, die ich einst geliebthatte und die selber den Tod gewählt hatte: Den junger Liebender, zu opfernderJünglinge und vielleicht den ihres eigenen Herzens.Irgendwann konnte ich Shulamith nicht mehr antworten, weil meine eigene Seele einBlatt war, hingetrieben auf etwas, dessen Wahrheit ich vielleicht gar nicht wissen wollteund dessen Ende ich vermutlich auch nicht überleben würde.Das aber war jenseits von Shulamiths Fragen, ging über sie, ihre Augen und ihrenKörper hinaus. Ich musste den Blick abwenden und schweigen. Dann waren die Liebeund die Sympathie, die mich aus ihren Augen anstrahlten meistens für ein paar <strong>St</strong>undenvorbei.

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