DER LUZERNER UNTERGRUND 1850-1920 - Terminus Textkorrektur
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zu bringen. Auch die im Untergrund verbreiteten inoffiziellen Stammtischgesellschaften<br />
fehlen in den Adressbüchern. Aus ihnen heraus wuchsen bisweilen bedeutende Vereine. Ein<br />
Beispiel einer Tischgesellschaft ist der 1917 im Wirtshaus zur Pflege von Kameradschaft und<br />
Eintracht konstituierte Friedensverein Gütsch, aus dem später der Männerchor Untergrund<br />
hervorging.<br />
Die Quartiergeschichte "Vom Gütsch zur Reuss" verweist als Beweis für eine<br />
"sprichwörtliche" Quartiersolidarität auf das im Vergleich mit den anderen Quartieren im<br />
Untergrund speziell stark blühende Vereinswesen. Zweifellos kam dem öffentlichen<br />
Quartierraum für die Freizeitgestaltung der Arbeiterbevölkerung des Untergrunds eine<br />
grössere Bedeutung zu als z.B. im Hofquartier, wo es kaum Wirtschaften gab und die vielen<br />
Hotelangestellten auch nach der Arbeit eher in der Sphäre ihres Arbeitsortes verharrten<br />
(Unterkunft im Hotel). Die Einschätzung der Quartiergeschichte übergeht aber, dass gerade<br />
das Vereinswesen politische und ethnische Gräben durchzogen. Insofern war es, mochte es<br />
noch so sehr florieren, weniger Ausdruck von Quartier- denn von partikularer<br />
Gruppensolidarität. Liberale Vereine waren die 1900 gegründeten Gütsch-Schützen, die<br />
Gütschmusik (1905) und der Männerchor Gütsch (1902). Nach dem Weltkrieg lösten sich die<br />
Vereine langsam aus der Bindung ans Quartier. Die Mehrheit der Mitglieder der Gütschmusik<br />
etwa wohnte 1922 nicht mehr im Untergrund. Parallel zu dieser "Verstädterung" ursprünglich<br />
im Quartier verwurzelter Vereine setzte nach dem Weltkrieg die ethnische Durchmischung<br />
ein. Die Italiener der ersten Generation waren noch nicht in einheimische Vereine<br />
aufgenommen worden. Doch auch umgekehrt gehörten z.B. dem 1906 von Luigi Sandi<br />
gegründeten Veloclub Concordia ausschliesslich Italiener an. 283<br />
In der Geschichte der "Gesellschaft der löblichen St.-Jakobs-Vorstadt, kurz St.-Jakobs-<br />
Gesellschaft - einer der traditionsreichsten Vereine im Untergrund -, widerspiegelt sich der<br />
gesellschaftliche Wandel im 19. Jh. An ihren alle ein bis zwei Jahre abgehaltenen<br />
"Urversammlungen" karikierte sie den gesellschaftlichen Wandel mittels parodistischen<br />
Ämterbesetzungen. 1811, zur Zeit der Mediation, hiess der Vorsitzende etwa<br />
"Amtsschultheiss" der "Republik zu St. Jakob". Andere Ämter trugen Titel wie "Kommandant<br />
der Festung Gibraltar", "Kabishächler", "Kuhpocken-Einimpfer", "Verteidiger der Unschuld",<br />
"Heiler der Stillwut". Als "grösstem Mann seit Jahrhunderten" erwies die St.-Jakobs-<br />
Gesellschaft Napoleon Reverenz, weil die Vorstadt sein "erstes Augenmerk" gewesen sei. In<br />
den 60er Jahren kündeten Ämter wie "Lokomotivpfiffer" und "Zukunftssanguiniker" von der<br />
"goldenen Zeit" der Industrialisierung. 284 Von über 100 Mitgliedern 1812 schrumpfte die<br />
St.-Jakobs-Gesellschaft bis Anfang 20. Jh. auf ca. 40 Mitglieder. Sie hatte sich vom<br />
republikanischen, auf die St.-Jakobs-Vorstadt begrenzten Geselligkeitsverein zu einem<br />
exklusiven städtischen Club vermöglicher liberaler Geschäftsleute gewandelt.<br />
283 In den 20er Jahren erhielt der Club durch den sich am Faschismus orientierenden FC Vittoria Konkurrenz.<br />
284 Beck (1957), S. 48-49.<br />
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