DER LUZERNER UNTERGRUND 1850-1920 - Terminus Textkorrektur
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Auch die politischen und soziokulturellen Begleiterscheinungen der Zuspitzung negativer<br />
sozialräumlicher Bedingungen wurden sichtbar. Die Verschlechterung des Sozialprestiges des<br />
Untergrundquartiers stand in Wechselbeziehung mit der Entwicklung zum Ausländer- und<br />
Industriequartier ab den 90er Jahren. Die Segregation und das soziale Stigma des Quartiers<br />
verschärften sich synchron.<br />
Die freie Arbeiterbewegung agierte angesichts der Omnipräsenz des katholischen Milieus in<br />
Luzern aus der Defensive. Die SP - deren Verhältnis zur italienischen Kolonie nicht immer<br />
unproblematisch war - rückte im Untergrund nach dem Ersten Weltkrieg folgerichtig zur<br />
stärksten Partei auf. In der Parteielite kaum vertreten und von dieser bisweilen paternalistisch<br />
behandelt, blieb der Untergrund aber selbst innerhalb der Arbeiterbewegung Stiefkind. Mit<br />
Ausnahme des Kreisvereins Untergrund verfügte die unterschichtige Arbeiterbevölkerung im<br />
Untergrund aber über keine institutionalisierten Kanäle der Interessenvertretung. Im<br />
Gegensatz zu Aussersihl, wo Auszüge in wohlhabende Quartiere die Opposition gegen den<br />
bürgerlichen Staat signalisierten, vermochte die Arbeiterbewegung im Untergrund die<br />
Quartiergrenzen nicht zu "sprengen". 358 Die Arbeiterbevölkerung prägte die kollektive<br />
Quartieridentität dazu zu wenig, verschiedene Interessengruppen rivalisierten im Quartier. So<br />
blieb das Arbeiterquartier als soziokultureller Faktor weitgehend stumm. Die unterschichtige<br />
Arbeiterbevölkerung verharrte - nomen est omen - im 'Untergrund'. Dass radikale<br />
Splittergruppen im Untergrund über etwas grösseren Anhang verfügten, änderte daran nichts.<br />
Etwa lässt sich für Luzern auch nicht nachweisen, dass der Landes-Generalstreik wie in<br />
Zürich vom Arbeiterquartier ausging. 359<br />
Die Bereitstellung moderner kirchlicher Infrastruktur (Kirchenbau) in Luzern in den ersten<br />
Jahrzehnten des 20. Jh. ermöglichte den Ausbau des kirchlichen Vereinswesens in den<br />
Quartieren. Der Bedeutungszuwachs der einzelnen Pfarreien wertete die Funktion der Kirche<br />
als Hüterin und Vermittlerin geistig-moralischer Werte auf. Der karitativ-sozialhygienische<br />
Diskurs in Zusammenhang mit dem Kirchenbau insinuierte der Bevölkerung des Untergrunds<br />
Rückständigkeit. Auch den Religionsunterricht prägte die Vermittlung eines schuldhaften<br />
unterschichtigen Sozialstatus.<br />
Strukturelle Chancenungleichheit benachteiligte die unterprivilegierte Quartierbevölkerung<br />
im Bildungsbereich. Das Vereinswesen, das sich erst nach dem Ersten Weltkrieg ethnisch zu<br />
durchmischen begann, zeichnete sich, ähnlich wie die Dienstleistungsstruktur, durch eine<br />
gewisse Autarkie aus. Führungspositionen in städtischen Vereinen bekleideten auch die<br />
besser situierten Quartierbewohner kaum. Im Quartierverein Bernstrasse erhob sich eine<br />
kleinbürgerliche Hausbesitzerschicht zum sozialen Ordnungsfaktor. Je mehr der Quartierruf<br />
litt, desto schärfere Repression bis hinein in die Privatsphäre übte sie gegen unterschichtige<br />
Arbeiter und Italiener aus.<br />
358 Fritzsche (1986), S. 60.<br />
359 Fritzsche (1986), S. 60.<br />
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