DER LUZERNER UNTERGRUND 1850-1920 - Terminus Textkorrektur
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prangerten durchaus auch katholische Arbeitgeber der Ausbeutung an. 325 Doch das<br />
"wucherische Grosskapital" erschien in ihrer Perspektive letztlich lediglich als Makel einer<br />
grundsätzlich intakten Wirtschaftsordnung.<br />
Im Ersten Weltkrieg spitzte sich mit der sozialen Polarisierung auch die Rivalität zwischen<br />
der linken Arbeiterbewegung und den Christlichsozialen zu. 326 Für den 30. August 1917 hatte<br />
der Schweizerische Gewerkschaftsbund in verschiedenen Städten Kundgebungen gegen die<br />
Teuerung und die bundesrätliche Politik angekündigt. In Luzern wuchs die Aktion zu einer<br />
triumphalen Protestkundgebung aus, obwohl ältere Gewerkschafter und gemässigte<br />
Sozialdemokraten zunächst ablehnend auf den Beschluss des SGB reagiert hatten, weil sie<br />
Repressionen seitens der Arbeitgeber befürchteten. Klemenz Ulrich, mit der Mobilisierung<br />
der Arbeiterschaft in Emmenbrücke betraut, beschreibt die Formierung des<br />
Demonstrationszuges:<br />
"Am Donnerstag nachmittag um 3 Uhr ertönten plötzlich die Sirenen der Viscose als Signal zum<br />
Streikbeginn. Alles strömte den Ausgängen zu in den Arbeitskleidern, die Frauen und Mädchen und die<br />
Arbeiter. Unsere Sirene war auch das Signal gewesen für die von Moosschen Eisenwerke. Alles strömte<br />
herbei. Dann formierte sich der Demonstrationszug, voran die Freie Jugend mit ihrer roten Fahne und<br />
einem Tambour. Wir zogen gegen das Reussbühl, nahmen gleichfalls noch die Arbeiterinnen der<br />
Schappespinnerei mit und zogen die ganze Strassenbreite einnehmend durch die Baselstrasse auf den<br />
Volkshausplatz. Die Freie Jugend und andere sangen die Internationale und andere revolutionäre Lieder.<br />
Auf dem ganzen Weg schlossen sich noch mehr Leute dem Zug an. Vor dem Volkshaus zogen wir mit<br />
etwa 5'000 Teilnehmern auf. Dann kam noch ein Zug von Kriens mit etwa 2'000." 327<br />
Dass die SP weit über ihre engere Anhängerschaft hinaus Demonstranten mobilisieren<br />
konnte, war für die Christlichsozialen ein Alarmsignal. Sie luden nun ihrerseits zu einer<br />
Protestversammlung gegen die Teuerung ins Hotel Union, wo 600 Personen eine Eingabe an<br />
den Regierungsrat verabschiedeten, in der sie Schutz vor "sozialdemokratischen<br />
Gewalttätigkeiten bei Demonstrationen" verlangten. 328 Auch andere, ähnliche Episoden<br />
machen deutlich, dass die christlichsoziale Partei politisches Profil suchte, indem sie sich<br />
Postulate der freien Arbeiterbewegung in abgeschwächter Form zu eigen machte, sich aber<br />
ideologisch scharf von ihr abgrenzte (siehe auch christlichsoziale Wahlpropaganda nach dem<br />
Ersten Weltkrieg in Anhang 65). Freigeistiger Liberalismus und "staatsfeindlicher"<br />
Sozialismus waren in der christlichsozialen Optik als verwandte Irrlehren dem Untergang<br />
geweiht: "Die Sozialdemokratie ist nicht mehr, wie viele Leute noch glauben, nur eine<br />
wirtschaftliche Organisation, nein, sie geht aufs Ganze. Der Liberalismus hat den<br />
Bolschewismus gerufen: Beide aber werden an sich selbst zu Grunde gehen, denn<br />
325 Statuten der christlichsozialen Parteigruppe der Stadt Luzern 1911. LVB 28.12.1918, 30.3.1917 und<br />
17.3.1917. Widmer (o.J.).<br />
326 1917-1919 verzeichnete die SP in verschiedenen Kantonen Wahlerfolge (VD, SO, BS): in der ersten<br />
Proporzwahl für den Zürcher Kantonsrat 1917 wurde die SP stärkste Fraktion: Sie konnte ihre Mandate beinahe<br />
verdoppeln.<br />
327 Ulrich (1973), S. 13.<br />
328 LVB 39/29.9.1917.<br />
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