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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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schien nichts so konsequent und logisch gesetzt wie eben das, was er in seiner<br />

Laufbahn nicht beendet hatte. Nach und nach erhielten die vielen Abbrüche die<br />

Aura des Selbstverständlichen, waren ihm notwendige Entscheidungen, die<br />

aneinandergereiht ein festes Band der Besonderheit seines Lebens ergaben. Sein<br />

zersplitterter Lebenslauf formte sich schließlich zu einer Geschichte seines zähen<br />

Bemühens, seinen Lebenssinn und seine Selbstbestimmtheit im permanenten<br />

Kampf gegen die soziale Isolation nicht zu verlieren.<br />

Seine Laufbahn scheint auf den ersten Blick einer postmodern beliebigen<br />

Sinnbastelei 158 zu entsprechen, der puren Lust an der Entdeckung eines Neuen.<br />

Sie verdankt sich jedoch dem Zusammenbruch seines familiären Bezugssystems<br />

und seiner Freisetzung vom familiären Erbe. Obwohl Gerhard Fasser auf seinem<br />

Weg durch die unterschiedlichsten sozialen Felder und beruflichen Situationen<br />

immer wieder enttäuscht wurde und das Erhoffte nicht gefunden hat, so ist ihm<br />

zumindest die Befreiung daraus immer irgendwie geglückt. Immer weiter suchen,<br />

so war seine Devise. Jetzt aber, in der vorherrschenden Logik der politischen und<br />

ökonomischen Regelungen und ausgerechnet in einer Zeit der Individualisierung,<br />

zerbricht ihm diese Fähigkeit an seiner immer größer gewordenen Abhängigkeit.<br />

Vielleicht ist ihm die Erzählung seiner Lebensgeschichte gerade daher eine<br />

Möglichkeit, seine Identität und den Sinn seiner Umwege zu beschwören.<br />

Gerhard Fasser beginnt seine Geschichte mit der Erinnerung an den Tod seines<br />

Vaters, in den späten 60er Jahren, in einer niederösterreichischen Kleinstadt. Zu<br />

diesem Zeitpunkt war er neun Jahre. Den Vater erlebte er während dessen jahrelanger,<br />

schweren Krankheit idealisiert ferne, beinahe als »heilig«, die Mutter sehr<br />

distanziert: Eine vierköpfige, kleinbürgerliche Familie – der Vater ein »kleiner<br />

Ingenieur«, die Mutter Hausfrau, eine um 17 Jahre ältere Schwester, er selbst, ein<br />

ungeplanter Nachzügler – eingebettet in ein dichtes, kontrollierendes Verwandtschaftsnetz<br />

von Tanten und deren Familien. Eine <strong>ganz</strong> gewöhnliche kleinbürgerliche<br />

Familie nach außen, die zwar ihr Auslangen hatte, nach innen aber mit vielen<br />

Konflikten, die immer unbesprochen blieben, nicht fertig wurde. Man diskutierte<br />

nicht, man unternahm das Jahr über nichts, außer eine Urlaubsfahrt im<br />

Sommer an die berühmten Hausmeisterstrände der oberen Adria. Sonntags der<br />

obligate Kirchenbesuch. »Leere Jahre«, meint er, und Jahre der familiären<br />

Sprachlosigkeit. Gerhard Fasser beantwortete seine kindliche Vereinsamung mit<br />

Lernverweigerung, was die Verwandtschaft veranlasste, ihn jetzt zumindest<br />

wahrzunehmen. Aber als Störfaktor, als Bedrohung. Geschlossen übten sie Druck<br />

auf ihn aus. Dieses Milieu duldet keine Schulversager. Er brachte – weniger zur<br />

Schande seiner mittlerweile verwitweten Mutter, als zur Schande seiner anderen<br />

Verwandten – gerade noch die Hauptschule und das anschließende Polytechnikum<br />

hinter sich. Aus der für Gerhard Fasser vorgesehenen Beamtenlaufbahn in<br />

der städtischen Elektrizitätsgesellschaft, in der auch sein Vater beschäftigt gewesen<br />

war, wurde nichts. Ein anderer Beruf kam erst gar nicht in Frage. Die Familie<br />

wertete seinen Leistungswiderstand als regelrechte Katastrophe. Die Schande des<br />

Abstiegs war nicht mehr zu verheimlichen, die gesamte Familienwürde war ein-<br />

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