20.11.2014 Aufrufe

(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

die Personen <strong>ganz</strong> anders. Wenn einer den <strong>ganz</strong>en Tag auf einer Baustelle gearbeitet<br />

hat und verschwitzt noch »guten Tag« und »danke« sagen kann, dann kann<br />

ich mir vorstellen, dass ein Beamter das auch kann, dass er ein freundliches<br />

Gesicht haben kann. Auch wenn ihm immer wieder was dazwischenkommen<br />

kann. Jeder Mensch hat gewisse Spannungen, wenn er acht, neun Stunden arbeitet.<br />

[…] Ich hätte mir gewünscht, der Pendler sollte als Pendler behandelt werden,<br />

und nicht als Schmuggler. Zum Beispiel mit einer reinen Pendlerspur. Dann<br />

könnten die Pendler schneller abgefertigt werden. Aber jetzt, Montag um halb<br />

sieben, eine Kolonne von einer halben Stunde, nur Pendler. Weil ich habe 30<br />

Jahre diese Kontrollen gehabt, wo man zum Schwitzen angefangen hat.<br />

– Die psychische Belastung…<br />

Jurij H. – Ja, diese psychische Belastung. Auf einmal wird im Auto alles abgekühlt,<br />

und es kommt erst 200 Meter nach dem Zoll wieder auf. Wie wenn du<br />

einen Lautsprecher leiser stellst, so siehst du die Menschen da. Ich bin zum<br />

Beispiel vor einiger Zeit über Passau nach Deutschland gefahren, wo ich einen<br />

Moment gezuckt habe, den Reisepass rauszuholen: »Ah, jetzt kommt ja Passau.«<br />

Obwohl ich schon einmal dort gefahren bin. Aber in dem Moment hat es mich<br />

so… Und du fährst trotzdem, obwohl kein Mensch dort ist, mit einem gewissen<br />

Gefühl drüber. Wirst du jetzt beobachtet oder ist da tatsächlich alles tot? Sind das<br />

nur die Gebäude, die dir zuschauen? Eine Wärme ist gekommen, Fuß vom Gas,<br />

langsamer geworden, noch langsamer… [kurze Pause, dann mit Nachdruck:]<br />

Jetzt kommt die Grenze. Diese gewisse Schwelle. Jetzt kommt die Grenze. Und<br />

dann siehst du: »Ah ja, da gibt’s ja nichts mehr«, und dann fährst du wieder.<br />

[Er erzählt weiter von den Grenzveränderungen nach dem Zusammenbruch<br />

Jugoslawiens und kommt wieder auf das Pendeln zurück]<br />

Seine Kinder sprechen ihn fast mit Onkel an<br />

Jurij H. – <strong>Das</strong> Pendeln ist nicht jedermanns Sache, von der Familie 293 getrennt<br />

zu sein. So wie ein Freund, der lebt in Graz, im Kolpingheim, das sind so<br />

Zweibettzimmer. Ich könnte mir nicht vorstellen, so zu leben, aber die sagen: »Ich<br />

kann mir nicht leisten, dass ich hier meinen Lohn ausgebe, dann brauche ich das<br />

nicht, dann kann ich auch zu Hause arbeiten.« Oder die wohnen so zu dritt und<br />

kochen, ihre Familie ist unten, das erspart dann sehr viel Geld. <strong>Das</strong> sind so Sachen.<br />

Ich muss Ihnen sagen, wie mein Vater zum Pendeln angefangen hat, das war für<br />

uns immer eine Freude, wenn er am Wochenende zurückgekommen ist. Dann war<br />

die Familie komplett. <strong>Das</strong> war so zerrissen. Wenn von uns einer was angestellt hat,<br />

die <strong>ganz</strong>e Verantwortung hat die Mutter übernehmen müssen. <strong>Das</strong> heißt, am<br />

Freitag war einfach diese Aussage: »Du, der hat das angestellt und der das.« Und<br />

der Vater hat dann gesagt: »Ich kann mit den Kindern jetzt nicht schimpfen, sondern<br />

nur, wenn ich es selbst sehe.« Und das passiert bei den Pendlern täglich. <strong>Das</strong><br />

ist eine Belastung… doppelt. Auf der einen Seite willst du der Vater sein und auf<br />

der anderen? Ja, jetzt werden sie bestraft. Die Familie ist sehr wichtig. Jeder hat<br />

sein Nest aufgebaut, und jeder hat seine Philosophie, es richtig zu machen.<br />

286

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!