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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Körper, ihrem Auftreten, ihren Grenzüberschreitungen, ihrem Lebensentwurf.<br />

Hier wird sie anerkannt. Wenn sie zur Arbeit geht, betritt sie eine kulissenhafte<br />

Verkaufsbühne, auf der ihr das eigene Erscheinen zum Erlebnis wird. Sie holt<br />

sich ihr Begehren zurück und verweigert die Opferrolle. Ihren Arbeitsplatz nützt<br />

sie zur Selbstinszenierung und Selbstästhetisierung. Der Körper ist Barbaras<br />

Kapital und zugleich ihre Leidensfläche. Ihr Ziel ist es, einen makel- und tadellosen<br />

Körper zu besitzen. Die Idealfigur ist in ihren Reflexionen gestaltlos und in<br />

der Schwebe. Ihre Magerkeit behält sie durch krankhafte Verweigerung einer<br />

Nahrungsaufnahme. Wenn sie glaubt, zugenommen zu haben, trainiert sie ihren<br />

Körper. Der Kampf gegen ihn zählt zu ihren Hauptbeschäftigungen und stellt sich<br />

als verzweifelter Akt gegen die Verdinglichung dar. Ein Paradox, denn während<br />

Barbara sich weigert, eine »Sache« zu sein, trägt sie ihren Kampf auf eben dieser<br />

Ebene aus: Sie behandelt ihren Körper wie ein Objekt, das sie gestalten will.<br />

Wenn sie mit mir über ihren Körper spricht, habe ich weniger das Gefühl, sie<br />

wolle sich dem kollektiven Ideal der Schlankheit unterordnen, als vielmehr versuchen,<br />

die Kränkungen, die sie in ihrem Leben erfahren hat, wieder gutzumachen.<br />

Wenn sie mir erzählt, ihr Körper könne keine Nahrung behalten, kommt es<br />

mir vor, als hungere sie nach Grundsätzlichem, nach Zuneigung und Anerkennung.<br />

Auf der Verkaufsbühne aber sollen Körper gezeigt werden, die locker und<br />

unbeschwert daherschweben, ohne den Anschein eines irgendwie gelagerten<br />

Leidens zu verbreiten. Die Übereinstimmung zwischen Barbaras Aussehen und<br />

der Vermarktungslogik der Bekleidungsfirma bleibt scheinbar, äußerlich und vorläufig.<br />

Ich habe Barbara an ihrem Arbeitsplatz besucht. Als ich das erste Mal nach den<br />

Gesprächen dort auftauche und mit der Rolltreppe nach oben in ihre Abteilung<br />

fahre, ist Barbara das erste, was ich wahrnehme. Mit einem Knäuel Kleidung<br />

unter dem Arm huscht sie zwischen Kleiderstangen hervor und wird von einer<br />

Kundin aufgehalten. Sie scheint gehetzt und besonders eifrig zu sein. Ich stelle<br />

mich hinten an, um sie zu begrüßen. Als sie mich sieht, packt sie mich am Arm<br />

und zieht mich hinter eine übervolle Kleiderstange. Sie erzählt mir, dass sie damit<br />

begonnen hat, ein Tagebuch über ihre Arbeit zu schreiben, um die Selbstkonfrontation,<br />

die ich durch mein Interesse an ihrer Arbeitswelt auslöste, fortzusetzen.<br />

Während wir reden, zieht sie immer wieder Kleidungsstücke hervor, um<br />

mich zu fragen, ob sie mir gefallen. Ich finde das Spiel amüsant, gleichzeitig<br />

spüre ich ihre Angst davor, überwacht zu werden. Mir wird klar, dass sie als<br />

Darstellerin auf der Vorderbühne in die Rolle der Verkäuferin geschlüpft ist. Die<br />

Konsumenten und Konsumentinnen sind das Publikum, das für gewöhnlich die<br />

Hinterbühne nicht betritt, auf der es dem Ensemble 94 möglich wird, die Fassaden<br />

abzulegen – und den Frust, die Kränkungen, Demütigungen und Verletzungen.<br />

Hier wird es möglich, die Kundinnen und Kunden auszulachen, sie zu karikieren<br />

und zu beschimpfen. Diese geheime Herabsetzung empfinden Barbara, ihre<br />

Kolleginnen und Kollegen als wahren Befreiungsakt.<br />

Als Barbara mir über ihre Arbeitsbedingungen erzählte, war sie zunächst vor-<br />

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