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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Abgedrängt<br />

Bernhard Wolf, Johann Verhovsek<br />

Edith, 49 Jahre, ist seit knapp einem Jahr im Büro eines freien Rundfunksenders<br />

beschäftigt. Die offene Arbeitsatmosphäre, die vom sprichwörtlichen<br />

künstlerischen Chaos geprägt ist, kommt ihr aufgrund ihrer Vorkenntnisse im<br />

Kulturgeschäft sichtlich entgegen. Unser Gespräch fand im Büro statt. Edith<br />

kümmert sich vom Sponsoring, über die Sendungsgestaltungen bis hin zum<br />

Schriftverkehr um mehr oder weniger alles. Sie wirkt mit ihrer engagierten Art<br />

wie der Motor in diesem Betrieb und sieht sich selbst aufgrund ihrer Berufserfahrung<br />

als ordnende Kraft. Sie ist beliebt. Mit ihrer herzlichen Art steht sie im<br />

Zentrum des Geschehens – eine Integrationsfigur, die Aktivität und Ruhe gleichzeitig<br />

ausstrahlt. Edith trägt lockere Freizeitmode, die kurzgeschnittenen Haare<br />

und ihr gesamtes Auftreten strahlen körperliche Agilität aus. Sie erzählt offen und<br />

ausführlich über ihr Leben. Während der Unterhaltung raucht und gestikuliert sie.<br />

Wenn sie negative Lebenserfahrungen schildert, senkt sie den Tonfall ihrer<br />

Stimme, wird stellenweise sehr leise, fast gedankenverloren. Solche Momente<br />

des Gespräches werden oft unmittelbar durch ihre Heiterkeit wieder aufgelöst.<br />

Edith ist eine »Transitarbeitskraft«, womit sie einer wachsenden Gruppe von<br />

Arbeitnehmerinnen angehört, deren Wiedereintritt in den so genannten regulären<br />

Arbeitsmarkt durch staatliche Förderungen unterstützt wird. Um gefördert zu<br />

werden, musste sie längere Zeit arbeitslos und »schwer vermittelbar« gewesen<br />

sein. Tatsächlich verschleiert der Begriff Transitarbeitskraft die eigentliche<br />

Chancenlosigkeit am Arbeitsmarkt. Mit dem Zeitpunkt der Einstellung beginnt<br />

eine zwölfmonatige Frist zu laufen, in der Edith sich soweit an ihrem Arbeitsplatz<br />

einarbeiten solle, dass sie, sofern der Betrieb in der Lage ist, voll übernommen<br />

werden könnte. Oder es gelingt ihr, einen anderen Arbeitgeber zu finden. Kann<br />

keine dieser Möglichkeiten realisiert werden, was bei Arbeitnehmerinnen in<br />

Ediths Alter häufig der Fall ist, kehrt sie in die Arbeitslosigkeit zurück. Dann<br />

beginnt das Spiel von Neuem. Da Langzeitarbeitslosen gemeinhin die Befähigung<br />

abgesprochen wird, den Anforderungen und Disziplinierungen der Arbeitswelt<br />

entsprechen zu können, bilden diese Transitarbeitsplätze im Sinne ihrer<br />

Erfinder einen Ort der Bewährung. Sie sind gleichzeitig so etwas wie eine letzte<br />

Chance, in der Arbeitsgesellschaft Fuß zu fassen und dem Abstieg in die gesellschaftlich<br />

definierte Bedeutungslosigkeit einer Armutsexistenz zu entkommen.<br />

Für Edith, die dem konservativen, bildungsbürgerlichen Milieu von Graz entstammt,<br />

war ein anderer Lebenslauf vorgesehen. Lange Zeit bestimmte ihr sehr<br />

patriarchalisch und autoritär agierender Vater, ein Mittelschulprofessor des »alten<br />

Schlages«, die Geschicke seines einzigen, spät geborenen Kindes. Sein geradezu<br />

zwanghaftes Streben, das Leben seiner Tochter vollständig nach seinen Vorstel-<br />

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