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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Straßenlokal oder ein kleines Lebensmittelgeschäft zu eröffnen. Durch die nun<br />

einsetzende soziale Veränderung der Bewohnerschaft und die damit verbundene<br />

sozialräumliche Umwertung ihres Umfeldes, 361 zerbrachen Irmgards Netzwerke.<br />

Ihre Stammgäste blieben aus. Zu den nachrückenden »Ethnic Communities« fand<br />

sie keinen Zutritt. Sie konnte weder die Sprache ihrer ständig wechselnden neuen<br />

Nachbarn, noch fanden ihre wiederholten Hilfsangebote wirklich Anklang.<br />

Zunehmend fühlte sie sich in der fremden Besetzung der Gasse mit ihrem<br />

Espresso beengt, als Fremde unter Fremden. Vor allem die Art, wie männliche<br />

Zuwanderer Gehsteige vor ihren Geschäften und Lokalen besetzten, laut ihre privaten<br />

Zusammenkünfte zelebrierten und durch ihre Präsenz den Ort zu dominieren<br />

begannen, war ihr suspekt. Die »Damen« auf der Gasse hatten Irmgard K.<br />

noch gefühlsmäßige Sicherheit und die Vertrautheit des Gewohnten geboten,<br />

doch die mussten sich Mitte der 90er Jahre, nachdem ein neues Prostitutionsgesetz<br />

mit hohen Strafsätzen in Kraft getreten war, vom illegitimen Straßenstrich<br />

in Bordelle, Wohnungen und an den Stadtrand zurückziehen. 362<br />

Irmgards Haltung den Einwanderern gegenüber entspricht einer gut eingeübten,<br />

spezifisch österreichischen kleinbürgerlichen Tradition des Umgang mit<br />

Fremden. Ihre schwierige Lebenssituation will sie nicht einfach negieren. Sie will<br />

helfen, initiiert Sammelaktionen unter ihren Gästen und verteilt die Güter an<br />

bedürftige Zuwanderer. 363 <strong>Das</strong>s sie sich von ihnen ausgeschlossen und bedrängt<br />

fühlt, ließ sie resignieren. Sie ist aber vor allem darüber enttäuscht, dass die staatlichen<br />

Stellen, denen sie sich ihr Leben lang selbstverständlich untergeordnet<br />

hatte, nicht in ihrem Interesse agieren. <strong>Das</strong> empfindet sie als Ungerechtigkeit, die<br />

sie richtig wütend macht.<br />

Für Irmgard K. wird die Geschichte einer großen Verschwörung, gesteuert und<br />

gelenkt von einer politischen Macht, die als abstrakt und unantastbar erscheint,<br />

zur Realität. Für sie ist klar, dass an diesem Ort »die Ausländer« gettoisiert werden,<br />

um sie bestmöglich kontrollieren zu können. Sie sieht sich in dieser Falle<br />

gefangen, besonders nachdem das städtische Wirtschafts- und Tourismusamt<br />

gegen Ende der 90er Jahre nach dem Konzept einer Unternehmensberatungsfirma<br />

die Neupositionierung des Griesplatzes und der Griesgasse als »interkulturelles<br />

Zentrum von Graz« vornimmt. Plakate mit reißerischen Slogans wie<br />

»Gries, jetzt noch schärfer« oder »<strong>Das</strong> große Fressen«, versehen mit »Ethno-<br />

Food«-Sujets, wurden affichiert, um eine fiktive Präsenz von »Ethno-Lokalen«<br />

besonderer Art zu bewerben. Italienische, griechische, spanische, türkische, dalmatinische,<br />

toskanische, chinesische, japanische Restaurants sollten eröffnet werden,<br />

umrahmt mit dem Ambiente einer Hawaii-Bar und englischer oder irischer<br />

Pubs. 364 So planen die Tourismusexperten, das Negativimage der Gegend als<br />

»Ausländerhochburg« in eine Werbebotschaft für einen kulissenhaften, kulinarischen<br />

Multikulturalismus positiv umzudeuten. Daraus werde auch die übrige<br />

Wirtschaft vor Ort Kapital schlagen, versprechen die Consultants. Seit die<br />

Griesgasse nun auch noch zur »Kulturhauptstraße« umbenannt wurde, entbehrt<br />

die politisch-wirtschaftliche Vision, den Gries als Urlaubsmagneten für Touristen<br />

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