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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Seiltanz<br />

Gerlinde Malli<br />

Ich lernte Barbara vor einigen Jahren beim Abendessen in einem Innenstadtlokal<br />

kennen. In ihrer unkomplizierten Art bestimmte sie von der ersten<br />

Minute an den Gesprächsverlauf des Abends bis weit nach Mitternacht. Sie<br />

brachte mich zum Lachen mit humorvoll geschilderten Episoden und zum<br />

Erzählen durch neugieriges Fragen. Bald schon war sie mir vertraut. Ich fand sie<br />

sympathisch, aber sie irritierte mich damals. Immer wieder war ich damit<br />

beschäftigt, sie nach der traditionellen Geschlechterordnung zu kategorisieren.<br />

Ihre Gesichtszüge und ihre Stimme haben etwas Männliches an sich, während<br />

ihre Arme und Hände zierlich mädchenhaft wirken. Ihr Verhalten stimmte nicht<br />

mit meinen Rollenerwartungen für ein einziges Geschlecht überein. Ich reproduzierte<br />

den gesellschaftlichen Zwang, dass ein jedes Individuum einem bestimmten<br />

Geschlecht zugeordnet werden muss.<br />

Nach nun bald siebenjähriger Bekanntschaft ist Barbara für mich noch immer<br />

eine schillernde Figur jenseits von starren Kategorien, ihre geschlechtliche<br />

Unklarheit verstört mich schon längst nicht mehr. 86 In ihr scheinen sich Gegensätze<br />

in ausgeprägter Weise zu vereinen: Sie ist traurig und fröhlich zugleich,<br />

schwermütig und leichtlebig, durchschaubar und geheimnisvoll, weiblich und<br />

männlich. Barbara ist 28 Jahre alt. Seit zwei Jahren arbeitet sie als Verkäuferin in<br />

einer globalen Bekleidungskette in dem im Süd-Westen der Stadt gelegenen<br />

Shopping-Center. <strong>Das</strong> erfuhr ich, als ich sie nach längerer Zeit zufällig wiedertraf.<br />

Diese kurze Begegnung machte mich neugierig. Ihr Leben in Differenzen<br />

und in Ambiguität, das ich kannte, schien sich auf eigenartige Weise mit ihrem<br />

neuen Arbeitsplatz verschmolzen zu haben. Ich wollte die seltsame Übereinstimmung<br />

zwischen Barbaras »Leben in der Schwebe« und der ökonomischen Logik<br />

ihres Arbeitsplatzes begreifen und bat sie einige Tage nach dieser Begegnung um<br />

ein erstes Gespräch für meine Arbeit. Sie stimmte zu. Zwei Wochen später<br />

besuchte ich sie in ihrer Wohnung, um das Interview zu führen. Sie war dünner<br />

geworden, abgemagert, zerbrechlich, in schwarze, straff sitzende Stoffhosen und<br />

ein hautenges T-Shirt gekleidet. Ihr schwarzes, kurz geschnittenes Haar verstärkte<br />

die kantigen Züge ihres blassen Gesichtes. Der Ausdruck in ihren großen, dunklen<br />

Augen aber war unverändert – auch ihr Lachen und die energische Art, mich<br />

mit Worten und Gesten zu begrüßen.<br />

Ihre Art, das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen und es zur gleichen Zeit in<br />

vollen Zügen zu genießen, macht es nicht einfach, über sie zu schreiben. Dennoch<br />

will ich sie zurückholen in eine greifbare Welt. Sie wird mir hin und wieder wie<br />

Sand durch die Finger gleiten. Immer wieder ertappe ich mich dabei, sie in eine<br />

künstliche Welt zu heben, die es so bedingungslos nicht gibt, ein Leben um sie<br />

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