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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Johann Verhovsek<br />

Meine Gesprächspartnerin Irmgard K. hat über 18 Jahre ein kleines Tagesespresso<br />

in der Griesgasse betrieben. In den letzten Jahren war die Zahl der<br />

Lokalgäste merklich zurückgegangen. Wie viele andere Cafés dieses Viertels<br />

musste auch ihres schließen. Krankheitsbedingt, so erklärte sie, ging sie in ihrem<br />

51. Lebensjahr in Frühpension. Ausschlaggebend für diesen Schritt sei gewesen,<br />

dass sie eine Nachfolgerin für ihr Lokal gefunden hätte, die ihr eine Ablöse zahlen<br />

konnte, denn ihr jetziges Einkommen aus der Invaliditätsrente sei gering. Den<br />

eigentlichen Grund, warum sie unbedingt aus der Griesgasse weg wollte, erzählte<br />

mir Irmgard K. erst im späteren Verlauf unseres Gespräches. Sie musste gehen,<br />

weil die Griesgasse zu einer »Ausländergasse« geworden sei, aus der die »Österreicher«<br />

verdrängt werden, und das mit Unterstützung der Stadtpolitik, die diese<br />

Entwicklung auch noch fördere. 356<br />

Als ich mit Irmgard K. Kontakt aufnahm, hatte sie ihr Lokal bereits übergeben.<br />

Die Nachmieterin ihres Cafés erzählte mir, dass Irmgard ihre sozialen Beziehungen<br />

in der Griesgasse und zu ihren Stammkundinnen und -kunden aber nach wie<br />

vor pflege und meist Mittwochvormittag in ihrem ehemaligen Tagesespresso vorbeischaue.<br />

Bei einer solchen Gelegenheit traf ich sie zum ersten Mal. Sie spielte<br />

gerade Karten mit einem ihrer ehemaligen Gäste und ließ sich nur ungern unterbrechen.<br />

Ich wartete geduldig. In einer kurzen Spielpause wandte sie sich mir zu<br />

und fragte mich freundlich, aber distanziert nach meinen Wünschen. Mit meinem<br />

Anliegen, mit ihr als Ortskundiger über die Entwicklung der Griesgasse und über<br />

die Gründe ihrer Geschäftsaufgabe zu sprechen, war sie sofort einverstanden.<br />

Allerdings erschien sie dann nicht zum vereinbarten Termin. Sie versetzte mich<br />

noch einige Male und als ich sie endlich doch antraf, hatte sie für ein ausführlicheres<br />

Gespräch zu wenig Zeit. Genervt und nahe am Kapitulieren, traf ich sie<br />

in ihrem ehemaligen Kaffeehaus nach fast zwei Monaten wieder. Da saß sie mit<br />

zwei Freundinnen und erklärte mir, diesmal vielleicht in einer Stunde Zeit zu<br />

haben. Ich setzte mich geduldig an einen Tisch im hinteren Teil des Lokales,<br />

beobachtete die Szenerie und wartete etwa eine halbe Stunde, in der sie mit ihren<br />

Bekannten plauderte. Erst als diese gingen, setzte sie sich zu mir. Wider Erwarten<br />

schien sie jetzt am Gespräch sehr interessiert zu sein.<br />

Irmgard K. ist eine sehr überzeugende Erzählerin, die sowohl ihr Sprechtempo<br />

als auch ihre Stimmhöhe und -lautstärke einsetzt, um dem Gesagten Nachdruck<br />

zu verleihen. In berufsgeübter Ausdrucksweise und mit kurzen szenischen Untermalungen,<br />

in denen sie in die Rollen von Prostituierten, Freiern und Gassenbewohnern<br />

schlüpft, verstärkt sie dramaturgisch ihre Schilderungen. Ihr gefestigtes<br />

Weltbild, gefeilt in stundenlangen Gesprächen an der Theke ihres Cafés, lässt<br />

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