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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Geldnot oder Entbehrung spüren. Seine Existenzangst in der Unsicherheit der<br />

Arbeitsverhältnisse, seine Sorge in der Unvorhersehbarkeit, wie lange er noch bei<br />

diesem Arbeitgeber bleiben kann, wie lange er in der Schichtarbeit durchhält,<br />

aber vor allem auch die Angst vor der Verschuldung ist für ihn wie für immer<br />

mehr Menschen zur ständigen Bedrohung geworden. 66<br />

Zwischen dem ersten und dem zweiten Gespräch, das wir zwei Wochen später<br />

führten, hat sich Franz’ Wahrnehmung verändert. Die Schilderung seiner<br />

Lebensgeschichte ließ ihn aufmerksam werden und sein Handeln reflektieren.<br />

Jetzt spricht er über seine tiefer liegenden Ängste und Unsicherheiten und nach<br />

dem Ende der Tonbandaufzeichnung über Politik. <strong>Das</strong>s er die SPÖ der FPÖ vorziehe,<br />

meint er, letztere sei eben die Partei der Unternehmer. Die Diskussion um<br />

die Senkung der Lohnnebenkosten erfolge auf dem Rücken der Arbeiter, die<br />

davon nichts zu spüren bekämen. Diese und ähnliche Dinge treiben seinen<br />

Widerstand noch an. Er interessiere sich im Gegensatz zur Mehrzahl seiner<br />

Kollegen nicht für Sport, sondern für Politik und die Aktivitäten der<br />

Gewerkschaft, weil Sport ihn nicht betreffe, Politik aber sehr wohl. Dieses bekundete<br />

Interesse an den politischen Geschehnissen verwundert mich, hatte er doch<br />

nach unserem ersten Gespräch erklärt, dass er nicht wählen gehe. Er kritisiert die<br />

neue Firmenpolitik, die Arbeiter übermäßig kontrolliere. Zur Zeit werden in seiner<br />

Firma Arbeiter unter dem Vorwand, Rationalisierungsmöglichkeiten zu<br />

suchen, gefilmt. Mit den Arbeitern würden sie sich alles getrauen. Diese Dinge<br />

kämen alle aus den USA nach Europa. Die Analyse dieser Phänomene bringt ihn<br />

dazu, die in jüngster Zeit eingeführten Arbeiterbesprechungen zu meiden. Es geht<br />

dabei um wöchentliche Treffen, bei denen die Belegschaft ihre Kritiken vorbringen<br />

kann. Franz meint, dass die für die Arbeiter und Arbeiterinnen dringenden<br />

Forderungen dabei nicht berücksichtigt, sondern nur irrelevante Themen aufgenommen<br />

werden. Zudem ärgert er sich darüber, dass diese Besprechungsstunde<br />

mit einem geringeren Betrag entlohnt wird. Wegen seiner Magenprobleme, die er<br />

mit seiner schwierigen Arbeitslage in Verbindung bringt, gehe er so selten wie<br />

möglich zu diesen Besprechungen, in denen Mitspracherecht nur vorgetäuscht<br />

werde. Seine Vorstellung von Engagement ist direkter. Trotz der zunehmenden<br />

Vereinzelung der Interessen durch prekäre und flexibilisierte Arbeitsbedingungen<br />

glaubt er noch an eine Solidarität unter den Kollegen. Die bedingungslose<br />

Loyalität mit dem Arbeitgeber, die er bei älteren Arbeitern sieht, kann er nicht<br />

nachvollziehen (»Sie beuten uns aus, wieso soll ich dann stillhalten?«). Man<br />

müsse auch an die Nachkommenden denken, für die sich die Arbeitsverhältnisse<br />

immer weiter verschlechtern würden. Er erzählt von den Methoden einer großen<br />

amerikanischen Firma, die ihn hinauswarf und allgemein sichtbar sein Foto mit<br />

dem Verweis auf sein Fehlverhalten aufhängte. <strong>Das</strong>s er manchmal Alkohol trinke,<br />

sagt er am Ende noch, und dass er nächstes Mal wieder wählen wolle.<br />

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