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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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ihrer individuellen Unsicherheit und Betroffenheit war etwas, das sie als Gruppe<br />

gegen Vorhaltungen und Verdächtigungen stark machte. Bei diesem Treffen ging<br />

es nicht darum, Schuldige zu finden, sondern darum, an die Verantwortung jedes<br />

Einzelnen zu appellieren. <strong>Das</strong> Bild der Asylwerber stand angesichts der medialen<br />

Stimmungsmache einmal mehr am Prüfstand der öffentlichen Meinung.<br />

Einzelfälle haben durch die Wirksamkeit medialer Praktiken zu »Wirklichkeitseffekten«<br />

322 geführt, die rassistische Vorurteile, verbale und andere Übergriffe<br />

legitimieren. Junge Afrikaner werden als Drogendealer auf der Straße angesprochen<br />

oder als »Drogenschläfer« angeschwärzt, Hilfsorganisationen kommen in<br />

Verdacht und werden dem Rechtfertigungsdruck der Öffentlichkeit und überfallsartigen<br />

polizeilichen Durchsuchungsaktionen ausgesetzt.<br />

Nach der Sitzung spreche ich mit Pierre, jenem Jungen, der sich zu Wort gemeldet<br />

hatte. Er ist groß und schlank, sein Kopf ist kahl rasiert, sein Gesichtsausdruck<br />

ernst. Wir verständigen uns auf Französisch. Ich spreche ihn mit Du an 323 ,<br />

er aber wechselt in seiner Unsicherheit zwischen Du und Sie. Meinem Wunsch,<br />

mit ihm über seine Geschichte und sein Leben in Graz zu sprechen, stimmte er<br />

nach kurzem Zögern zu. Einige Tage später treffen wir uns im Stadtzentrum. An<br />

diesem Dezembernachmittag ist es kalt und trüb. Pierre wartet bereits auf mich.<br />

Er trägt eine helle Hose, Turnschuhe, ein braunes Kordsamtblouson. Unter dem<br />

Arm hält er eine Mappe. Unser Gespräch führen wir in einem kleinen Lokal.<br />

Neugierige Blicke bleiben auf uns haften. Pierre bestellt Toast und Cola, ich Tee.<br />

Er fragt mich, ob ich nicht hungrig sei. Er lächelt erstmals, als ich ihm antworte,<br />

dass ich von zu Hause käme und keinen Hunger hätte. Seine Stimme und sein<br />

Sprechen, selbst seine Gestik sind anders als die seiner Alterskollegen. Er erzählt<br />

mir vom Unterricht 324 , den er bereits seit Februar dieses Jahres besucht und von<br />

seinem Wunsch, Informatik zu studieren. Er spricht langsam und zunächst ohne<br />

Unterbrechung.<br />

Mit der Bitte, mir von seiner Familie und seiner Lebensgeschichte zu erzählen,<br />

ändert sich sein Gesichtsausdruck. Sobald meine Fragen seine familiäre und heimatliche<br />

Welt berühren, distanziert er sich von mir. Er greift sich immer wieder<br />

an die Stirn und bedeckt sein Gesicht mit beiden Händen. Meine Befürchtung, die<br />

Interviewsituation könnte in ihm unangenehme Erinnerungen an ein Verhör hervorrufen,<br />

ließ mich zurückhaltend sein. Weder die gemeinsame Sprache, das ihm<br />

vertraute Französisch, noch mein bekundetes Interesse für ihn und seine<br />

Erfahrungen ließen eine offene und gelöste Gesprächsatmosphäre zustande kommen.<br />

In aller Kürze steckt er die Eckpfeiler seiner Lebensgeschichte ab. Er kommt aus<br />

dem Kamerun, sein Vater ist vor einiger Zeit gestorben, er hat Geschwister, auch<br />

sein Bruder ist tot. Vor einem Jahr und sechs Monaten hat er sein Land verlassen<br />

müssen. Seither lebt er in Österreich. Diese knappe Schilderung seines komplizierten<br />

und leidvollen jungen Lebens entspricht – so eine seiner Betreuerinnen – der<br />

von Schleppern empfohlenen Anweisung, gegenüber den Behörden so wenig<br />

Details wie möglich anzugeben. Auch mir gegenüber ist er jetzt auffallend verhal-<br />

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