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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Pendlerdasein<br />

Gilles Reckinger<br />

Obwohl gerade für Graz Grenzpendler und -pendlerinnen aus dem ehemaligen<br />

Jugoslawien eine große ökonomische Rolle spielten und heute zum Teil noch<br />

spielen, ist ihr <strong>Das</strong>ein aus den öffentlichen Diskursen und aus der öffentlichen<br />

Wahrnehmung verschwunden. Sie sind offiziell nicht existent und damit auch statistisch<br />

nicht erfassbar. Nach wie vor fahren sie – meist per PKW – regelmäßig<br />

aus Slowenien in das 60 km nach der Grenze liegende Graz zur Arbeit. Unterschiedliche<br />

Arbeitsverhältnisse verhindern ihre Selbstwahrnehmung als Gruppe.<br />

Durch den ständigen Ortswechsel bleiben ihnen soziale Beziehungen sowohl im<br />

Heimatland als auch im Arbeitsland flüchtig. Ihre Zugehörigkeit wird als fragmentiert<br />

und ambivalent erlebt und immer wieder in Frage gestellt.<br />

Arbeitsmigration nach Graz hat im heutigen Slowenien eine lange Tradition. Die<br />

Stadt war ein wichtiger Anziehungspunkt für Menschen aus allen Teilen, besonders<br />

aber aus dem Südosten der Monarchie. <strong>Das</strong> kulturelle, soziale und wirtschaftliche<br />

Gefälle zwischen den deutschsprachigen und slowenischsprachigen Teilen<br />

der ehemaligen, bis 1918 in die Habsburgermonarchie eingegliederten Untersteiermark<br />

war groß. Einer bäuerlich slowenischsprachigen Bevölkerung stand<br />

eine deutschsprachige städtische Elite gegenüber. Die Grenzziehung von 1919<br />

sowie die Systemkonflikte des 20. Jahrhunderts haben die Beziehungen schwer<br />

belastet. Funktionierende räumliche Verflechtungen wurden voneinander getrennt,<br />

soziale und kulturelle Beziehungen zerstört bzw. erschwert, in jedem Fall aber verändert.<br />

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren von intensiven, gewalttätigen<br />

Auseinandersetzungen begleitet, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

kulminierten und die Menschen hier wie dort traumatisierten. War in der<br />

Zwischenkriegszeit der Übertritt noch ohne größere Schwierigkeiten möglich, so<br />

wurde die Staatsgrenze zu Kriegsende wieder hergestellt und hermetisch geschlossen.<br />

Bis zum Abschluss des österreichischen Staatsvertrags 1955 war kein grenzüberschreitender<br />

Verkehr möglich. Damit erfolgte nicht nur der tiefste soziale<br />

Einschnitt in ein ehemals verbundenes gesellschaftliches System zweier ethnischer<br />

Gruppierungen, sondern auch das Ende eines – wenn auch immer problematischer<br />

gewordenen – Kontaktes über die Staatsgrenzen hinweg. 294 Ideologisch<br />

und politisch unterschiedliche Welten und unüberwindbare, als leidvoll erlebte<br />

Kriegserinnerungen trennten die Menschen diesseits und jenseits der Grenze.<br />

In den 60er Jahren wurde die »schwere« Grenze des Eisernen Vorhanges wieder<br />

durchlässiger. Mit der enormen Wirtschaftskonjunktur in Westeuropa entstand<br />

auch in Österreich ein großer Bedarf an ausländischen Arbeitskräften, der<br />

auf das benachbarte Jugoslawien eine Sogwirkung ausübte. Vor allem die<br />

Baubranche zog »Gastarbeiter« aus dem gesamten südeuropäischen Raum an, in<br />

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