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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Unser Gespräch führten wir in ihrer kleinen Küche. Hier gab es keine Repräsentationsobjekte.<br />

Lediglich ein Kalender mit Kochrezepten für jeden Monat<br />

hing an der Wand über der Eckbank. Die Geschirrspülmaschine lief und ein<br />

Hühnchen wartete auf seine Vorbereitung fürs Sonntagsessen. Ein Raum eben,<br />

der keine andere Funktion erfüllt, als Küche zu sein. Die häusliche Umgebung<br />

hinterließ Spuren in der Tonbandaufzeichnung. Nicht nur die Geräusche der<br />

Spülmaschine waren zu hören, sondern auch mehrmaliges Telefonläuten und ein<br />

Gespräch, das sie mit ihrem Sohn führte, der zu Besuch kam. Während des Gespräches<br />

war mir der Lärm im Hintergrund nicht aufgefallen. Erst beim Transkribieren<br />

des Gespräches fühlte ich mich durch die Gleichzeitigkeit von Reden und<br />

Nebengeräuschen genervt. Jetzt fiel mir auch die Bedeutung dieses »Settings«<br />

auf. Wollte mir Frau Ninaus in ihrem Privatbereich das vorführen, was ihr außerhalb<br />

nicht mehr gelingt? Die familiäre Geborgenheit und ihre Sozialkontakte verwiesen<br />

darauf, dass Kommunikation für sie noch selbstverständlich ist und innerhalb<br />

eines sicheren Rahmens funktioniert. Die Ordnung, das zur Schau gestellte<br />

Sonntagsessen und die laufende Spülmaschine waren Repräsentation dafür, dass<br />

ihre Position nicht nur dem Berufsleben, sondern ebenso dem familiären, privaten<br />

entnommen wird. Innerhalb dieses Kontextes war es ihr gar nicht anders möglich,<br />

mich als Frau und weniger als Vertreterin einer Institution zu registrieren.<br />

Die Geschlechtszugehörigkeit schafft Solidarität. Sie ist ein wichtiges Mittel, ein<br />

Vertrauensverhältnis im gleichen Wissen herzustellen.<br />

Aber trotz dieser Gemeinsamkeit stellte sich immer wieder eine Distanz zwischen<br />

uns her, die nicht nur soziale Differenzen, sondern vor allem den Altersunterschied<br />

spürbar werden ließ. Gerade am Beginn des Gespräches schien Frau<br />

Ninaus etwas nervös zu sein. Immer wieder griff sie nach ihrer Zigarettenpackung,<br />

ohne sie zu öffnen. Als ich fragte, ob ich rauchen dürfe, löste sich ihre<br />

erste Befangenheit. Sie nahm sich eine Zigarette und bot mir Getränke an. In vielen<br />

ihrer Äußerungen spürte ich noch immer Zurückhaltung, Abwägen, Vorsicht.<br />

Sie versuchte die Firma, die sie anstellt, nicht zu kritisieren und das Gesagte zu<br />

relativieren, indem sie auf eine allgemeine Ebene auswich. Erst jetzt wurde mir<br />

klar, mein Alter entsprach dem der Kundschaft und dem der meisten ihrer<br />

Arbeitskolleginnen. Sie sah mich als Repräsentantin dieser Gruppe, deren Verhalten<br />

sie nicht mehr verstand, zum Teil sogar verurteilte. Erst als ich ihr davon<br />

erzählte, dass meine Mutter nach fünfminütigem Aufenthalt das Bekleidungsgeschäft<br />

flucht- und schockartig wieder verlassen habe, lässt sie ohne<br />

Zurückhaltung ihrer Frustration, ihrem Zorn und ihren Kränkungen freien Lauf.<br />

In meiner Mutter erkannte sie eine Verbündete. Diese Verbindung konnte die<br />

soziale Distanz zwischen uns reduzieren.<br />

Frau Ninaus trug einen pinkfarbenen Hausanzug in jugendlichem Schnitt, als<br />

ich sie besuchte. Ein Kontrapunkt zur räumlichen Umgebung, so als würde sie<br />

mit ihm eine Gegenstimme zur Hauptmelodie setzen wollen. Ihr auffällig modisches<br />

Auftreten provozierte die Frage nach der Veränderung ihres Kleidungsstils<br />

durch die Arbeit in der Modefirma, die ich, ich konnte nicht anders, schließlich<br />

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