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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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fürchte das wachsende Gefühl der Sinnentleerung seiner Arbeit. Einige Wochen<br />

später traf ich Malek anlässlich einer Benefizveranstaltung des Vereins. 244 Ich<br />

fragte ihn, ob er über seine jetzige Situation berichten wolle. In der Folge hatten<br />

wir zwei Treffen.<br />

<strong>Das</strong> erste Mal kam er an einem Sonntagnachmittag zu mir. Wir setzten uns in<br />

die Veranda. Er streckte seine Beine aus, zündete sich eine Zigarette an und<br />

begann zu reden. Er erzählte und rauchte fast ununterbrochen, als wäre sein qualmender<br />

Mund ein brennender Ort, dessen Feuer er mit seinen Worten schürte, um<br />

den Druck und seine Sorgen zu erleichtern. Zunächst schien es mir, als wolle er<br />

sich durch die detailreiche Schilderung seiner Lebensgeschichte von seiner beruflichen<br />

Enttäuschung und seinem Gefühl, gescheitert zu sein, wegdenken und<br />

mich von meinem Vorhaben, mit ihm über seine Arbeitssituation als Betreuer von<br />

Schubhäftlingen und über seine Zukunft zu sprechen, ablenken. Später, beim<br />

wiederholten Abhören des Tonbandes, wurde das Verbindende zwischen seiner<br />

Herkunftsgeschichte und seinem beruflichen Dilemma als Kern seines Leidens<br />

sichtbar. Es ist der unerfüllbar gewordene Auftrag, der ihn an die Schuld eines<br />

uneingelösten Erbes erinnert. Jetzt, wo sich sein Verständnis von Arbeit und<br />

Nächstenliebe nicht mehr zum Ausdruck bringen kann, wo sein Einsatz nicht<br />

mehr gebraucht wird, empfindet er sich als Versager. Zwischen der Last eines<br />

unerfüllten Erbes und den Zwängen der neuen institutionellen Logik, scheint ihm<br />

sein Lebensweg zerbrochen zu sein.<br />

Malek wurde im Marokko der 50er Jahre in einem kleinen Dorf nahe der spanischen<br />

Enklave Melilla geboren. In einer Gesellschaft, die sich nach der<br />

Unabhängigkeit Marokkos (1956) zwischen dem Erbe der französischen und spanischen<br />

Besatzungsmacht und dem königlich autoritären und korrupten Regime<br />

von Hassan II. herumschlägt 245 und wo die Prekarität der materiellen und politischen<br />

Lebensbedingungen mit der beinahe zwangsläufigen Auswanderung der<br />

Männer nach Europa verknüpft ist. Eine traditionelle Gesellschaft, in der der<br />

Islam das Weltbild der Menschen repräsentiert und die sozialen Beziehungen der<br />

Familie, der Geschlechter und der Gesellschaft reglementiert, die moralischen<br />

Gesetze vorschreibt, die in die patriarchalen Strukturen 246 eingebettet sind und<br />

mithin die Macht der Väter, Brüder und Ehemänner in sozialen Praxen besiegelt.<br />

Fortbestand und Akkumulation der familiären Kapitalressourcen obliegen den<br />

Männern. 247<br />

Der Blick, den Malek auf seine Migrationgeschichte wirft, ist der eines Wanderers<br />

zwischen den Kulturen. In lebhaften und dichten Bildern schildert er seine<br />

Kindheit und sein wiederholtes Ausbrechen nach Europa. Maleks Vater besuchte<br />

die Koranschule, wurde Aufseher in der väterlichen Landwirtschaft und später<br />

Beamter im Verteidigungsministerium. 248 Als Gebildeter genießt er in der Dorfgemeinschaft<br />

von Nadur, wo die Familie lebt, großes Ansehen. Maleks Mutter<br />

repräsentiert das traditionelle Bild einer muslimischen Frau. Sie brachte dreizehn<br />

Kinder zur Welt, Malek ist »der dritte Sohn«. Die Hauptschule, die Malek<br />

besuchte, lag 28 km von seinem Heimatdorf entfernt. Viele Schüler nahmen den<br />

240

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