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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Zwischen den Welten<br />

Gilles Reckinger<br />

Ich traf mich mit Jurij zweimal in einem ruhigen Gasthaus am westlichen Grazer<br />

Stadtrand. In diesem Viertel mit seinen kleinbürgerlichen Einfamilienhaus- und<br />

Reihenhaussiedlungen lebt er mit seiner Frau und ihrem jüngsten Sohn in einer<br />

Wohnung eines Baues aus den 60er Jahren. Am Ende des zweiten Gesprächs<br />

kommt seine Frau Sara hinzu. Sie kommt, um ihn abzuholen und nimmt sofort am<br />

Gespräch teil. Während Jurij seine Fähigkeit, nicht nur mit allen Problemen souverän<br />

fertig zu werden, sondern dabei auch als Gewinner hervorzugehen, in Szene<br />

setzt, lenkt sie den Blick auf eine andere Wahrheit, auf die andere Seite des<br />

Pendlerdaseins, auf die Schwierigkeiten, hier und dort zu leben. Zwei unterschiedliche<br />

Wahrnehmungen aus unterschiedlichen Positionen und unterschiedlichen<br />

Erfahrungen – oder eine einzige Realität in unterschiedlichem Gewand.<br />

Jurij stammt aus der Nähe des slowenischen Ortes Murska Sobota, der 15 km<br />

jenseits der österreichischen Grenze liegt. Von hier kommen viele Arbeitspendler<br />

nach Graz. Auch Jurij ist als Jugendlicher Ende der 60er Jahre mit seinem Vater<br />

über die Grenze gependelt. Mittlerweile lebt er schon 30 Jahre mit Frau und<br />

Kindern in Graz. Er ist Ende 40, sein dichtes braunes Haar und seine tiefen Lachfalten<br />

lassen ihn wesentlich jünger erscheinen. Sein Auftreten ist geschäftsmännisch,<br />

er geht selbstsicher und entspannt auf mich zu. Sein gewandter Umgang<br />

und sein perfektes Deutsch mit leichter steirischer Dialektfärbung geben zu<br />

erkennen, dass er es gewohnt ist, in der Öffentlichkeit zu stehen. Nicht ohne Stolz<br />

bemerkt er, oft für einen Steirer gehalten zu werden.<br />

Wie sein Vater und Großvater ist Jurij gelernter Spengler. Der Großvater hatte<br />

in Murska Sobota eine eigene kleine Werkstätte gegründet, die sein Vater aus<br />

wirtschaftlichen Gründen nicht mehr übernehmen konnte. Jurijs Vater gehörte zur<br />

ersten Generation der Wochenpendler, die in Österreich als Arbeitskräfte begehrt<br />

waren. Er arbeitete stets in derselben Grazer Firma und fuhr jedes Wochenende<br />

zu seinen Eltern und Geschwistern nach Slowenien zurück. Jurij erzählt von den<br />

abenteuerlichen Bedingungen, unter denen er in den ersten Jahren, mit dem Vater<br />

auf einem Moped, im Winter in Decken eingehüllt, auf schlecht ausgebauten<br />

Straßen die 100 km bis nach Graz zurücklegte. Seine Lehre absolvierte er in<br />

Österreich bei jener Firma, in der schon sein Vater arbeitete und die nun auch ihn<br />

25 Jahre lang beschäftigen sollte. Bald zu einer verantwortlichen Position aufgestiegen,<br />

schien ihm seine Integration vollends zu gelingen. Obwohl Jurij seine<br />

Deutschkenntnisse als »sehr arm« bezeichnet, genoss er wegen seiner guten<br />

Arbeitsleistung und seiner bedingungslosen Loyalität innerhalb der Firma<br />

Anerkennung. Zudem konnte er auch das Anerkennungskapital, das sich der<br />

Vater erarbeitet hatte, einlösen. In einer männlichen Berufswelt, die Anerkennung<br />

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