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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Jenseits der Schlagzeilen<br />

Cécile Huber<br />

Die Begegnung mit Pierre verdankt sich meinem Kontakt zu einer Psychotherapeutin,<br />

die 20 junge Afrikaner – so genannte unbegleitete, minderjährige<br />

Flüchtlinge – in Gruppen- und Einzeltherapien in einer »Clearing Stelle« 318<br />

betreut. Ohne Eltern oder andere Begleitpersonen haben sie ihre Heimatländer<br />

verlassen, in denen sie politischer und religiöser Verfolgung, Folter oder sexuellem<br />

Missbrauch ausgeliefert waren. 319 Nach der österreichischen Gesetzeslage<br />

wird ihnen das Recht auf Sicherheit, Begleitung und Betreuung bis zum Abschluss<br />

des langwierigen Asylverfahrens zuerkannt. 320 Im Gegensatz zu erwachsenen<br />

Flüchtlingen, die in die Schubhaft verwiesen und dort betreut werden, bietet<br />

diese Betreuungsstelle den Jugendlichen einen geschützten Zwischenraum. 321<br />

Hier erlernen sie Anpassungsstrategien für ein Überleben im Exil.<br />

Im Vorfeld meines Besuches in einer der wöchentlichen Gruppentreffen junger<br />

Burschen hatte mir die Therapeutin von ihrer schwierigen Situation erzählt, mit<br />

der sie und ihre Klienten derzeit konfrontiert sind. Die mediale Kampagne<br />

»Afrikaner als Drogendealer« hat einen neuerlichen Höhepunkt erreicht und der<br />

Stadt den Ruf einer »Drogenhauptstadt« eingebracht.<br />

Eine Dreiviertelstunde lang trudeln die Jungen einzeln oder in kleinen Gruppen<br />

im geräumigen Gesprächszimmer ein, holen sich Sessel aus dem Nebenzimmer<br />

und erweitern den Kreis. Pünktlichkeit sei für viele noch keine Selbstverständlichkeit,<br />

meint die Therapeutin und mahnt die neuen Ankömmlinge. Um die<br />

Ernsthaftigkeit der Situation klar zu machen, teilt sie ihnen mit, dass sie selbst zur<br />

Polizei bestellt und befragt worden sei. Sie spricht auf Deutsch und wiederholt<br />

alles auf Englisch. Eindrücklich vermittelt sie ihren Ärger und prangert die<br />

Verantwortungslosigkeit jener an, die auch diese Gruppe in Verdacht bringen und<br />

gefährden. Die angespannte Atmosphäre wird nur vom Geräusch der auf dem<br />

Holzboden rutschenden Sessel unterbrochen. Es vergehen lange Minuten, ehe<br />

sich einer der Jungen zu Wort meldet und wissen will, was geschieht, wenn man<br />

verhaftet wird. Die Antwort der Therapeutin ist eindeutig: Abschiebung und<br />

Rückkehr zu einer Situation, der sie gerade entkommen waren. Die Jungen<br />

schweigen. Nur einer meldet sich, der mit leiser Stimme seinen Unmut zum<br />

Ausdruck bringt und sich damit der Gruppe und seiner Therapeutin gegenüber<br />

positioniert. Mit solchen Zwischenfällen könne die vor einigen Monaten durchgeführte<br />

Straßentheateraktion gegen Drogen und Rassismus, an der er selbst<br />

beteiligt war, zunichte gemacht werden. Die Therapeutin schließt sich seiner<br />

Wortmeldung an und fordert die Jungen zur Stellungnahme auf. Vergebens.<br />

<strong>Das</strong> Schweigen der Jugendlichen war mir zunächst Ausdruck ihrer Hilflosigkeit.<br />

Aus der zeitlichen Distanz denke ich an ihre Loyalität zueinander. Neben<br />

308

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