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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Um zu verstehen<br />

Elisabeth Katschnig-Fasch<br />

Wer den anderen verstehen will, muss sich an seine Stelle denken. <strong>Das</strong> heißt<br />

nicht, dass Übereinstimmung oder Identifizieren zum Verstehen führt. <strong>Das</strong> bestgemeinte<br />

Bemühen, sich »einfühlend hineinzuversetzen« und »erlebend nachzuvollziehen«,<br />

ist nicht ausreichend. Verstehen setzt voraus, den subjektiven Sinn<br />

der »Lebensführung«, wie Max Weber sagt, die innere Logik der Lebensweisen<br />

und Handlungen zu verstehen. Dazu ist es notwendig, die verborgenen Regeln<br />

und ihre dahinter liegenden Strukturen zu erkennen, die die Menschen dazu veranlassen,<br />

so und nicht anders zu handeln, wahrzunehmen, zu sprechen oder zu<br />

urteilen, zu leiden oder dagegen anzukämpfen. Diese Form des methodischen<br />

Verstehens folgt im Wesentlichen dem Verstehenskonzept des »praktischen<br />

Sinns« 369 Pierre Bourdieus. Ein solches Verstehen verzichtet auf den Anspruch<br />

einer gesicherten letzten Erklärung. Es geht den subtilen Weg des Vorläufigen<br />

und der Annäherung.<br />

Zunächst galt es also, die Lebenszusammenhänge unserer Gesprächspartner<br />

und -partnerinnen, ihre Biografie, ihre berufliche und gesellschaftliche Stellung<br />

im Leben, ihre Lebensumstände kennen zu lernen, um uns immer besser gedanklich<br />

in ihre Lage hineinversetzen zu können. Die Gespräche, die wir nach der Zeit<br />

des Kennenlernens und des Einblickes in das Lebensumfeld führten, orientierten<br />

sich an Pierre Bourdieus Haltung des »aktiven und methodischen Zuhörens« 370 .<br />

<strong>Das</strong> heißt, dass wir den Befragten Raum gaben und die Äußerungen unsererseits<br />

auf Nachfragen beschränkten. So blieb uns die Aufmerksamkeit auch für das<br />

Verschwiegene, für das, was abgewehrt wurde. Die Interviewsituation entsprach<br />

daher weitgehend einem alltäglichen Gespräch und unser Nachfragen einer natürlichen<br />

Reaktion, die Darstellungen von bestimmten Ereignissen herausfordern<br />

sollte, in welchen die verborgenen Mechanismen der Macht sichtbar werden.<br />

Wenn wir uns auch <strong>ganz</strong> auf unser Gegenüber einließen, war es uns wichtig, im<br />

Hintergrund zu bleiben. Im Zuhören entwickelten sich nächste Fragen oder der<br />

Gesprächssituation angepasste Feedbacks, die immer im Zusammenhang mit<br />

dem Vorhergesagten standen.<br />

Wie unsere Gesprächspartnerinnen und -partner fühlen und denken, wie sie mit<br />

Konflikten und Ängsten umgehen, war nicht in einer einmaligen Begegnung zu<br />

erheben. Wenn wir uns fragten, was denn das Gesagte für den Gesprächspartner<br />

oder die Gesprächspartnerin bedeutete, suchten wir jenen Zusammenhang, der<br />

sich in gleichen Positionen und ähnlichem Habitus bestätigt findet. 371 Diese<br />

»Konstruktionsarbeit der Objektivierung« 372 ist Grundvoraussetzung jedes ethnografischen<br />

Gespräches. Dadurch werden Unbehagen, Gefühle, Wut, Enttäuschungen<br />

und auch scheinbar Nebensächliches begreifbar und geben Einsicht in<br />

359

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