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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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nahm sie in Kauf, nicht nur, um etwas dazuzuverdienen und ihrer Freundin zu<br />

helfen, sondern auch, um ihrem Alltag zu entkommen. Ihre Freundin war ihr<br />

Vorbild. Daheim fühlte sie sich immer stärker unterdrückt und abhängig. Die<br />

schrittweise Lösung der Beziehung zu ihrem Mann zog sich über Jahre. Letztendlich<br />

war es für sie trotzdem schwer, den Schritt zur Scheidung in dem Wissen<br />

zu gehen, alles zurücklassen zu müssen. Heute ist sie froh, dass sie »einfach den<br />

Elan noch gehabt hat und die Power«, um sich durchzusetzen. Einige Jahre später<br />

wäre ihr das nicht mehr gelungen, vermutet sie. <strong>Das</strong>s ihre Tochter zu diesem<br />

Zeitpunkt in Graz den Beruf einer Fotokauffrau erlernte und der Sohn knapp vor<br />

dem Pflichtschulabschluss stand, erleichterte ihr den Schritt. Anna H. spricht von<br />

»draußen«, wenn sie das Land meint; heute ist die Stadt längst ihr neuer<br />

Lebensmittelpunkt geworden.<br />

Als Anna H. den Schlussstrich unter ihre 18-jährige Ehe zog, war sie gut vorbereitet.<br />

Sie hatte sich Geld zur Seite gelegt und eine 45 m² große Wohnung<br />

gemietet, und sie wusste, dass sie mit der Unterstützung ihrer Bekannten in Graz<br />

rechnen konnte. Dann ist sie »einfach weg«gegangen. Sie brauchte Abstand von<br />

einem Ort, wo jedem bekannt war, dass sie eine »Geschiedene« ist und wo sie<br />

permanent an ihre Vergangenheit und an das Scheitern ihrer Rolle als Ehefrau<br />

erinnert wurde. Jetzt sah sie die Chance gekommen, ein selbstständiges Leben zu<br />

schaffen, sich von ihrem Mann und zugleich von den dörflichen Strukturen zu<br />

lösen. In der kleinen Reinigungsfirma ihrer Freundin konnte Anna H. nur drei<br />

Vormittage arbeiten. <strong>Das</strong> war zu wenig. Um finanziell unabhängig zu bleiben,<br />

suchte und fand sie über eine Zeitungsannonce eine weitere Stelle bei einer größeren<br />

Reinigungsfirma. Seither arbeitet sie dort jeden Nachmittag sechs Stunden.<br />

Zusätzlich übernahm sie an zwei Vormittagen die Stiegenhausreinigung eines<br />

neugebauten Wohnhauskomplexes. Und am Wochenende putzte sie die Büros<br />

eines Architekten. Erst jetzt verdiente sie genug, um die Miete und den Lebensunterhalt<br />

in Graz begleichen zu können. Die viele Arbeit diente ihr auch zum<br />

Vergessen.<br />

Ihre Einstellung bei der Gebäudereinigungsfirma lief völlig unspektakulär ab.<br />

Keine Zeugnisse, Praxisjahre oder Protektionen waren nötig, um aufgenommen<br />

zu werden. Die wichtigste Anforderung bestand darin, sofort verfügbar zu sein<br />

und in einem kurzen Gespräch mit dem Betriebsleiter der Firma die grundlegenden<br />

Arbeitstugenden wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Fleiß zu bekunden. 241<br />

<strong>Das</strong> Unternehmen verließ sich blind auf ihre Fähigkeiten im Reinigen. Hätte sie<br />

sich nicht bewährt, wäre das Risiko für die Firma freilich sehr gering gewesen.<br />

Schließlich hatte man nichts in ihre Arbeitskraft investiert.<br />

Anna H. weiß, dass sie verhältnismäßig wenig verdient, dennoch ist ihr der<br />

Beruf Möglichkeit, ihre Selbstbestimmtheit zu wahren. Sie trifft ihre Entscheidungen<br />

in Anpassung an die objektiven Möglichkeiten, die ihrem Realitätssinn<br />

entsprechen. Es ist eine Realität des Notwendigen und Zweckmäßigen, die<br />

abseits von den in intellektuellen Milieus geführten, abstrakten Diskussionen um<br />

Ausbeutung und falsche Ideologien liegt. 242 Sie erkundigt sich nicht, wie viel<br />

229

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