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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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der Straße angesprochen wird. Eingeholt vom kolportierten Verbrecherbild kann<br />

er weder dessen Symbolik, noch dessen Effekten entkommen. Immer wieder auf<br />

den Status eines Kriminellen reduziert, wird er an den äußersten Rand der Gesellschaft<br />

verwiesen. 330 Soziale Partizipation und gesellschaftliche Anerkennung, die<br />

Voraussetzungen für soziale und kulturelle Integration, 331 sind ihm kaum möglich.<br />

Seine Erfahrungen kann er jedenfalls nicht mehr mit seinem eigenen<br />

Anspruch auf Menschenwürde, den er ohnehin bereits auf ein Minimum reduziert<br />

hat, in Einklang bringen.<br />

Pierre erzählt mir ohne zu klagen von seinen heftigen Magenschmerzen, die er<br />

in Stresssituationen spürt, von seinen Desillusionen und seinen depressiven Stimmungen.<br />

Mit Hilfe der Maltherapie würden seine kreisenden Gedanken zu Farben<br />

und Formen werden und sich die Bilder seiner Vergangenheit allmählich lösen.<br />

Hoffnung und Verzweiflung, Höhen und Tiefen seiner psychischen Befindlichkeit<br />

bringt er mit der Unruhe der Meereswellen zum Ausdruck – eine Verbildlichung,<br />

die er mit landschaftlichen Wahrnehmungen und Erinnerungen an seine<br />

Kindheit in Verbindung bringen kann. Auf seine Zukunftsperspektiven angesprochen,<br />

antwortet er nüchtern und realistisch, dass sie wohl von den Chancen, die<br />

ihm zugestanden werden, abhängen. Er klammert sich <strong>ganz</strong> bewusst an die kulturellen<br />

und sozialen Integrationsangebote, geht zur Schule, betreibt regelmäßig<br />

Sport, interessiert sich für Informatik und engagiert sich in künstlerischen Initiativen<br />

und in antirassistischer Öffentlichkeitsarbeit. Der Malworkshop ermöglicht<br />

ihm, seine Bilder auszustellen und Anerkennung zu erfahren. Fallweise kann er<br />

seine Bilder verkaufen. Allerdings sind diese Erfolgserlebnisse mit der Gefahr<br />

verbunden, den Verdächtigungen rassistischer Vorurteile erneut zum Opfer zu fallen:<br />

»[…] vielleicht kauft jemand mein Bild, damit ich mir Schuhe kaufen kann,<br />

und dann? Was werden die Leute sagen, wenn sie mich mit diesen Schuhen<br />

sehen? Ich bin ein Drogendealer!«<br />

Nach 14 Tagen treffen wir uns wieder. Diesmal kommt Pierre zu mir. Er trägt<br />

dieselbe Kleidung wie bei unserer ersten Zusammenkunft. Er hat wenig Zeit, er<br />

müsse pünktlich wieder weg, weil eine Bekannte in einem Theaterstück auftrete,<br />

das er nicht versäumen wolle. Ich erinnere an unser letztes Gespräch und bitte<br />

ihn, etwas über die Hintergründe seiner Flucht zu erzählen, um ihn in seiner derzeitigen<br />

Situation besser verstehen zu können. Pierre denkt nach und lehnt sich<br />

nach vorne. Diesmal kann er darüber sprechen, auch wenn es ihm noch immer<br />

Überwindung kostet. Er beginnt mit den tragischen Ereignissen, die ihm und seiner<br />

Familie seit 1990 widerfahren und bis heute zu Opfern politischer Gewalt und<br />

Verfolgung machen. 332 Er berichtet von der unausweichlichen Staatsgewalt in der<br />

ausführenden Hand der polizeilichen Machtmaschinerie. Sowohl sein Leiden als<br />

Flüchtling als auch seine Überlebensstrategien als Asylwerber stehen in engem<br />

Zusammenhang mit seinem sozialen Herkunftsmilieu. Pierre kommt aus einer<br />

gebildeten, katholischen Familie, die zur oppositionellen politischen Elite Kameruns<br />

gehört und ihn als Opfer politischer Gewalt prädestinierte. Hier wird seine<br />

Herkunft gegenüber anderen Asylwerbern zum Vorteil.<br />

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