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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Wie immer sich die Formen von double-bind Situationen ausdrücken, sie entstehen<br />

durch die Ambivalenz einer neuen, noch nie da gewesenen Problemsituation,<br />

die im Für und Wider ihren sprachlichen Ausdruck findet und das<br />

Denken prägt. Diese Ambivalenz ist zur Normalität geworden. Die Selbstwahrnehmung<br />

pendelt zwischen traditionell geprägten Erwartungen, den in der<br />

Unsicherheit besonders gesteigerten Bedürfnissen nach Anerkennung und der<br />

gleichzeitig geahnten Enttäuschung. Im Übergang zwischen fordistischer<br />

Moderne 233 und neoliberaler Nachmoderne bleibt kaum Möglichkeit zur<br />

Identitätsfindung und noch weniger zur Formulierung konkreter Forderungen zur<br />

Verbesserung der Lage. Sprachlosigkeit, Angst und defensiver Rückzug – das ist<br />

die eine Konsequenz. Irgendwie in der Spaß-, Erlebnis- und Erfolgsgesellschaft<br />

mitzuhalten, um sich und der Welt glauben zu machen, dass man überleben wird<br />

– das ist die andere.<br />

Andere, und dies sind überwiegend Jüngere, scheinen zwar besser zurechtzukommen,<br />

weil sie bereits in der Zeit der neuen Bedingungen geboren und sozialisiert<br />

wurden. Sie haben traditionelle Hemmungen, soziale Rücksichten und<br />

Bindungen abgeworfen, um frei zu sein und ihre Sprache und Begriffswelten und<br />

damit ihre Werte und Werthaltungen den Funktionseigenschaften der neuen<br />

Marktbedingungen angepasst und zu ihren persönlichen Eigenschaften gemacht.<br />

Sie sind flexibel, mobil und effizient. Aber auch wenn ihr Vertrauen in die neuen<br />

Begrifflichkeiten vor den neuen Referenzen gerechtfertigt scheint, so zeigt sich<br />

der double-bind Effekt dann doch in der Paradoxie der Bedeutungen der neuen<br />

Begriffe und Diskurse. Im herkömmlichen Sinn ist Flexibilität sowohl die<br />

Fähigkeit des Nachgebens, als auch die Fähigkeit der Wiederherstellung der eigenen<br />

Form. Flexibel heißt heute für eine bestimmte Verwendbarkeit gerüstet zu<br />

sein, worauf Richard Sennett in seinem Werk Der flexible Mensch 234 , in der<br />

Originalausgabe The Corrosion of Charakter, ausführlich Bezug nimmt. Die mit<br />

diesem Schlüsselbegriff intendierten Eigenschaften, wie die Fähigkeit, sich von<br />

der Vergangenheit zu lösen, jederzeit verfügbar zu sein und Risiken einzugehen,<br />

werden nur um den Preis der eigenen Form, des Opfers des Eigensinns erreicht.<br />

Ähnlich verhält es sich mit dem suggerierten Begriff der Freiheit zur<br />

Selbstbestimmung. All den schillernden und verlockenden Begriffen und euphemistischen<br />

Sprachregelungen werden Bedeutungen und Wünsche zugemessen,<br />

die sich nicht erfüllen und diejenigen, die ihnen vertrauen, werden zwischen<br />

Täuschung und Enttäuschung, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit gefangen<br />

gehalten. Die neuen Begriffswelten sind Ausdruck und Werkzeug systemisch<br />

beeinflusster Vergesellschaftung, womit sich neue Wertgefüge mit der Macht der<br />

Versprechung durchsetzen. Sie geben sich als hoffnungsvolle und existenzsichernde<br />

Qualitäten und entfalten in der gleichzeitigen Erfahrung der Menschen,<br />

dass sie dennoch oder gerade deshalb ersetzbar sind, ihre volle Wirkung.<br />

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