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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Damoklesschwertes nötigt Pierre zur Verdrängung seiner latenten Ängste. Er<br />

spürt die Distanz der Österreicher und Österreicherinnen den Fremden gegenüber<br />

und vergleicht: »Wenn ein Ausländer zum Beispiel in Kamerun ankommt, sind<br />

sie gastfreundlich, sie sind offen. In Österreich ist das nicht der Fall, wo der eine<br />

keine Zeit für den anderen hat, es ist jeder für sich. […] Jetzt beginne ich mich<br />

dran zu gewöhnen.« In seinen Erinnerungen verklärt er seine Landsleute.<br />

Gleichzeitig betont er immer wieder, dass er sich hier integrieren will. Er nimmt<br />

die Betreuungsangebote der Clearingstelle ernst und besucht einen Deutschkurs.<br />

Doch Depressionen ziehen ihn mehr und mehr in die Spirale der Verzweiflung:<br />

Schlaflose Nächte, Rückzug in seine Einsamkeit.<br />

Wenn Pierre von seinen Krisen erzählt, stellt er eine offensichtliche Distanz<br />

zwischen uns her. Er spricht mich mit Sie an und von sich in der dritten Person.<br />

Wie in einer Beweisführung listet er eine für ihn schicksalhafte Verkettung von<br />

Ereignissen auf: Seine Verhaftung, die ihm zu Unrecht geschah, seine traumatische<br />

Gefangenschaft, die seine Flucht auslöste und die ihm Ursache seiner jetzigen<br />

Schwierigkeiten und seines Leidens ist. Er nimmt jetzt ein Therapieangebot<br />

in Anspruch, aber trotz zahlreicher Gespräche erweisen sich seine Probleme als<br />

resistent. Es gelingt ihm nicht, zu vergessen, sich von seinen Erinnerungen<br />

wenigstens zeitweise zu befreien. 327<br />

Zwischen den posttraumatischen Folgen seiner Erlebnisse und dem Wunsch<br />

nach Integration, gestaltet sich das Leben im Asylland Österreich in den permanenten<br />

Widersprüchen der Gesetzeslage als ein Überlebenskampf. Einerseits<br />

garantieren ihm die Bestimmungen gewisse Privilegien, wie zum Beispiel das<br />

Recht auf Schutz und Betreuung als minderjähriger Flüchtling, andererseits aber<br />

halten sie ihn in der Rolle des bedürftigen Opfers in völliger Abhängigkeit. 328 Die<br />

sozialen und humanitären Hilfeleistungen erweisen sich zugleich als Bevormundung<br />

und als gesellschaftliche Kontrolle. Autonomie und Handlungsspielraum<br />

werden nicht ermöglicht. Pierre bekommt Unterkunft und Verpflegung in einem<br />

Missionshaus. Als Asylwerber hat er kein Recht auf ein Einkommen und muss<br />

die Dinge, die sein Leben leichter machen und mit denen er sich als Jugendlicher<br />

bestätigen könnte, verzichten. Ein Kinobesuch, der Kauf eines neuen Paar<br />

Schuhe, hie und da mit Freunden auszugehen, oder – was ihm noch mehr am<br />

Herzen liegt – seine Mutter anzurufen, sprengen die Grenzen seiner Sozialhilfe.<br />

Pierre hat damit zu leben gelernt. <strong>Das</strong> gehöre, wie er sich selbst beruhigt, ohnehin<br />

für viele Einwanderer zu den Lebensbedingungen einer längerfristigen<br />

Realität.<br />

Seine Hautfarbe setzt Pierre der gesellschaftlichen Wirksamkeit sozialer<br />

Diskriminierung in besonderem Maße aus. 329 Wie allen männlichen, »schwarzafrikanischen«<br />

Jugendlichen wird ihm abnormes, asoziales Verhalten zugeschrieben.<br />

Die Integration, die ihm einerseits als Asylwerber in hochoffiziellen Diskursen<br />

zugesprochen und im Rahmen von Betreuungseinrichtungen verlangt wird,<br />

wird ihm in seinen praktischen Alltagserfahrungen verwehrt. Er fühlt sich vom<br />

Eintrittsverbot in Discos verletzt oder gedemütigt, wenn er als Drogendealer auf<br />

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