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(Hg.) – Das ganz alltägliche Elend - Löcker Verlag

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Betteln, um zu helfen<br />

Gerald Winter<br />

Annemarie M. ist ausgebildete Psychiaterin und Psychotherapeutin. Die gebürtige<br />

Schwedin leitet den Gesundheits- und Flüchtlingsbetreuungsverein<br />

OMEGA 208 , in dem Folteropfern und nach Kriegserlebnissen Traumatisierten entsprechende<br />

therapeutische Hilfe angeboten wird. <strong>Das</strong> Betreuungsangebot richtet<br />

sich auch an all jene Migranten und Migrantinnen, die am Verlust ihrer Heimat<br />

und dem Zwang, sich in einer neuen sozialen Struktur orientieren zu müssen, leiden.<br />

Viele der Klienten und Klientinnen sind schwerst depressiv oder orientierungslos.<br />

Um ihr Selbstvertrauen und Kompetenzen zu stärken und um sich in<br />

einer neuen Kultur einzufinden, richtete der Verein neben dem psychotherapeutischen<br />

Programm Beschäftigungsprojekte verschiedenster Art ein – Computerkurse,<br />

Kochkurse, Frauencafés, Tanzen und Musik. 35 in unterschiedlichen Ausmaßen<br />

beschäftigte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen suchen so zu verhindern,<br />

dass die Hilfesuchenden passiv auf die Entscheidung der zuständigen Beamten<br />

über ihren Asylantrag in den Quartieren warten müssen und der völligen<br />

Entmündigung durch Politik und Gesellschaft ausgeliefert werden. Die Überwindung<br />

des erzwungenen Wartens ist der erste Schritt in Richtung Integrationsarbeit,<br />

die der Verein leistet.<br />

Ihre eigene fremdländische Herkunft kann und will die 55-jährige Leiterin dieser<br />

Hilfsorganisation nicht leugnen. Jedenfalls sei es ihr auch deshalb bisher nicht<br />

gelungen, wirklich akzentfrei Deutsch zu sprechen, wie sie gleich eingangs<br />

betont. Anfang der 70er Jahre, als Graz für skandinavische Studierende noch ein<br />

beliebter Studienort war, kam sie hierher, um Medizin zu studieren. Ihr Studium<br />

beendete sie in Schweden, heiratete und arbeitete hier zehn Jahre in einer staatlichen<br />

sozialmedizinischen Einrichtung. Nach der Scheidung übersiedelte sie<br />

wieder nach Graz, wo sie mit ihrem zweiten Mann, einem Lehrer, seit nunmehr<br />

15 Jahren am Stadtrand lebt. Offen und frei von distanzierten Höflichkeitsfloskeln<br />

der Verwaltungssprache erzählt mir Annemarie – in der Selbstverständlichkeit<br />

jener, die den Geist der 68er noch in sich tragen, ist sie gleich per Du mit<br />

mir – wie es zu dieser Vereinsgründung kam und von den Belastungen ihrer<br />

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, von zunehmenden Verwaltungsarbeiten, die<br />

von ihr kaum noch zu bewältigen sind. Ihre Art, die Dinge direkt zu benennen<br />

und ihr legerer Umgang sind offensichtlich ein wesentlicher Faktor für das kollegiale,<br />

wenn auch nicht hierarchiefreie Klima innerhalb der Mitarbeiterschaft. An<br />

den Anfang und in den Mittelpunkt unseres Gespräches, das immer von Telefonaten<br />

unterbrochen wurde, schließlich wegen einer dringenden Intervention<br />

dann auch verschoben werden musste, stellte sie den Verein. Beim nächsten<br />

Treffen sprach sie von sich und von der Verbindung zwischen ihrer Kindheit in<br />

201

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