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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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Und, ich muß es gestehen, es gab Gleichaltrige, die immerhin<br />

fasziniert waren von dem Thema. Leute, die heutzutage bei<br />

ATTAC wären. Der Grund, war<strong>um</strong> junge Leute marxistischökonomisch<br />

und international denken, ist immer <strong>der</strong> gleiche: <strong>der</strong><br />

Marxismus erklärt, wie die Welt funktioniert. Das will man einfach<br />

wissen, wenn man ein Gehirn hat. Danach kann man Rechtsanwalt,<br />

Politiker, Zahnarzt werden, o<strong>der</strong> Autor. Man muß danach nicht<br />

Selbstmord machen, mit einer Bombe im Rucksack. Das hat Marx<br />

nicht gewollt.<br />

Doch z<strong>um</strong> Thema. Diese jungen Leute trafen sich immer im<br />

Hinterzimmer eines Lokals mit meiner Frau und steckten die Köpfe<br />

zusammen. Ganz erhitzt kam sie immer zurück. Ihr großes Wort<br />

war damals "Anarchismus". Wir lebten in einer zeittypischen<br />

Doppel-Wohngem<strong>eins</strong>chaft mit Diedrich Die<strong>der</strong>ichsen und seiner<br />

Frau. Die aber, die stadtbekannt kluge Nicola ("Nici") Die<strong>der</strong>ichsen,<br />

war älter als er und stand bereits turmhoch über den R.A.F.-<br />

Kin<strong>der</strong>eien. Sie interessierte sich für Literatur und arbeitete für<br />

Uwe Nettelbecks Zeitung 'Die Republik'.<br />

Im Fernsehen verfolgten wir die Schleyer-Entführung. Wir sahen<br />

damals viel fern, waren ohnehin mediensüchtig, und besprachen<br />

immer alles. Da wir in zwei Wohnungen lebten, telefonierten wir<br />

auch viel. Das Ortsgespräch (*) war nach <strong>der</strong> ersten Einheit<br />

kostenlos. Die<strong>der</strong>ichsen und ich sprachen geschätzt vier Stunden<br />

pro Tag, die meisten davon am Telefon. Ich war dazu<br />

übergegangen, mir den Hörer mit einer speziellen Apparatur an<br />

den Kopf zu binden. Natürlich fanden wir den deutschen Herbst<br />

ganz beson<strong>der</strong>s aufregend. Dennoch interessierte uns schon<br />

damals Literatur mehr: Benn, Jünger, Hamsun, Céline, Pound waren<br />

unsere Helden, und Thomas Mann aus "Ansichten eines<br />

Unpolitischen". Wir erwogen, Reitunterricht zu nehmen und<br />

nachträglich <strong>der</strong> Bundeswehr beizutreten. Ich sprach mit meiner<br />

Frau nicht ein einzigesmal über ihren Anarchismus und hoffte<br />

inständig, diese pubertäre Phase möge sich bald in Nichts<br />

auflösen, so wie die blöden MAD- und Titanic-Hefte auf dem<br />

Gem<strong>eins</strong>chaftsklo.<br />

Doch - weit gefehlt. Eines Tages klingelte die Polizei und führte<br />

meine Frau ab. Sechs Beamte durchsuchten die Wohnung nach<br />

weiteren Frauen. Ich hatte aber nur die eine (damals). Dann wurde<br />

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