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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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Ich finde den Hintereingang zur Raststätte. Ist natürlich <strong>der</strong> einzige<br />

Eingang. Ein junger Mann mit freiem Oberkörper und kahlrasiertem<br />

Schädel kommt heraus, geht wie in Trance an mir vorbei, muskelbepackt.<br />

Der hat mich wahrscheinlich nicht gesehen, und dann auch nicht<br />

zugeschlagen. Ich sehe die alten, vertrauten Raststättensymbole:<br />

Wickelra<strong>um</strong> für Babys, Dusche, Toiletten. Nur Behin<strong>der</strong>te gab es damals<br />

noch nicht, also keine Klos für die. Freilich, man muß es einfach sagen, es<br />

geht nicht an<strong>der</strong>s: die Wand- und Bodenfarben braun und blau sind<br />

wirklich superscheußlich. Siebziger style, gewiß, aber muß es gleich so<br />

kraß sein? Hätte nicht auch orange und hellblau gereicht?<br />

Ich drehe mich nochmal rasch <strong>um</strong>. Alles menschenleer. Keine Geräusche.<br />

In <strong>der</strong> Ferne nur das feine Meeresrauschen des ewigen Autobahnverkehrs.<br />

Im Hotel selbst nur das Surren <strong>der</strong> Belüftungsanlage. Ich lese ein Schild,<br />

<strong>der</strong> alte Kommandoton aus dem Kalten Krieg: "SIE BEFINDEN SICH IN<br />

EINEM BETRIEB DER TANK UND RAST AG!" Die Sonne brennt. Ich bin<br />

Dennis Hopper in ´Paris, Taxas´. Gleich kommt Nastassja Kinski. Es ist<br />

Mitte August. Die Stadt ist leer. Der alte Bau ist von <strong>der</strong> Sonne aufgeheizt.<br />

Die braunen Kacheln am Fußboden sind vielleicht nicht gar keine braunen<br />

Kacheln. Die Bl<strong>um</strong>en sind jedenfalls auch keine. Aus Stoff.<br />

Nein, aus Stoff-Imitat. Ich setze mich und bestelle schließlich Rührei mit<br />

Schinken.<br />

Ich kann es nicht aufessen, weil es so VIEL ist. Das sind noch die<br />

Portionen für die ausgehungerten Flüchtlinge aus <strong>der</strong> Zone, die sich 33<br />

Tage lang unter <strong>der</strong> Mauer einen Tunnel gegraben hatten. Das ist natürlich<br />

nett, eigentlich, also wirklich rührend, und ich will schon den ersten<br />

Pluspunkt notieren, jedoch:<br />

das ganze Zeugs ist so maßlos FETT, alles trieft und schwimmt im Fett,<br />

alles schliert und glibbert und tunkt in einer undefinierbaren Soße aus<br />

ranzigwirkendem, schmalzartigen Irgendwas, daß mein Magen rebelliert.<br />

Er schwillt an aud Medizinballgröße, ich muß ständig aufstoßen, und als<br />

ich die Innenfläche meiner rechten Hand behutsam auf die Bauchdecke<br />

senke, unbeobachtet, ja, was passiert da? Da muß ich doch wirklich einen<br />

Kampf gegen den Brechreiz ausfechten!<br />

Dabei habe ich einen Magen wie einen Panzer. Mir wird eigentlich niemals<br />

schlecht.<br />

Also, das ist schon bedenklich. Ich versuche, mich auf die Aussicht zu<br />

konzentrieren, mich abzulenken, auf die Fotos zu starren, die zu<br />

hun<strong>der</strong>ten im Ra<strong>um</strong> angebracht sind. AVUS-Fotos aus besseren Zeiten.<br />

Bernd Rosemeyer, ´Hänschen´ Stuck, Ernst Henne, Rudolf Carrachiola.<br />

Fotos mit Hakenkreuzen und Standarten, Siegerehrungen und jubelnden<br />

Massen, Silberpfeilen und Fortschritten beim Reichsautobahnbau. Die<br />

AVUS, Mann! Hier war was los. <strong>Auf</strong> jeden. Hier haben die Nazis<br />

Geschwindigkeitsweltrekorde aufgestellt, die heute noch gelten. Also fast.<br />

Hier ist Ernst Henne am 30. Mai 1933 über 219 km/h schnell gefahren,<br />

z<strong>um</strong> Beispiel.<br />

Drei Stunden lang sitze ich da und kämpfe mit meinem Magen, immer<br />

regungsloser, den Blick auf die vorbeiführende Autobahn geheftet, wo<br />

breitbeinige deutsche Mannen auf ihren sogenannten ´Chopper´-<br />

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