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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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Trotzdem, in <strong>der</strong> Pause sehen wir uns das Stadion genauer an. Die<br />

aufwendige Renovierung hat den Charakter ka<strong>um</strong> beeinflusst. Die<br />

mächtigen, pl<strong>um</strong>pen, viereckigen Säulen dominieren jede<br />

Wahrnehmung. Auch die häßlichen Arno-Breker-Figuren sind noch<br />

da. Beim näheren Hinsehen liest man, dass sie gar nicht von Breker<br />

sind. Na, das interessiert ja auch gar nicht. Nicht Brussig. Dem ist<br />

es völlig wurscht, was hier 1936 o<strong>der</strong> 1836 o<strong>der</strong> wann auch<br />

immer stattgefunden haben mag. Die Antwort is auffm´ Platz, wa.<br />

Aber eigentlich interessiert ihn nicht einmal das. Er ist apathisch<br />

sitzengeblieben, als <strong>der</strong> Ausgleich fiel.<br />

Doch man soll ihn nicht unterschätzen. In <strong>der</strong> zweiten Halbzeit<br />

spielt sich Hertha in einen Rausch. Die Zuschauer gehen begeistert<br />

mit. Würde jetzt ein Propagandaminister „Wollt Ihr den totalen<br />

Sieg?“ rufen, würden 50.000 „Yeah, yeah, yeah!“ o<strong>der</strong> sowas<br />

brüllen, je nach System. Und <strong>der</strong> Schiedsrichter tut <strong>der</strong> Masse und<br />

Brussig auch noch den Gefallen, scheinbar gegen die<br />

Heimmannschaft zu pfeifen. Nun steht sie auf, Volkes Stimme, und<br />

bricht los, wie ein Sturm.<br />

„Du Verbrecher!“<br />

„Der Schiedsrichter ist schlimmer als die Cholera!“<br />

„Na gib doch ne Karte du Penner!“<br />

„Du alte Drecksau!“<br />

„Wenn ick hier so gepfiffen hätte, wär ick nich lebendig vom Platz<br />

gekommen!“<br />

„Du alte DFB-Mafia!“<br />

„Schiedsrichter du Schwein! Schlagt das Schwein tot!“<br />

Nun weht er wie<strong>der</strong> durchs Stadion, <strong>der</strong> alte Geist des Terrors. Hier<br />

fühlt er sich einfach zuhause. Lynchjustiz, losgelassener Pöbel,<br />

aufschä<strong>um</strong>ende Emotion. Die Druckwellen des Hasses wogen<br />

akustisch hin und her wie gefühlte Tsunamiwogen, von<br />

Stadionwand zu Stadionwand. Vom friedlichen neuen Patriotismus<br />

ist nichts mehr übriggeblieben, es ist wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> alte, <strong>der</strong><br />

Poltergeist von 1933 bis 45. Für Brussig ist das schön, denn<br />

genau das hat er in seinem Buch genauestens beschrieben. Nur<br />

glaubt man es nicht, bevor man es nicht hautnah erlebt hat.<br />

Doch es geht vorbei. Wie ein déja-vu. Irritierend, aber kurz. Die<br />

Trennlinie zwischen Jubel und Terror und <strong>um</strong>gekehrt ist dünn.<br />

Hertha schiesst zwei weitere Tore, und alle liegen sich glücklich in<br />

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