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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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scheinen so etwas wie natürliche Würde zu besitzen. Und sie beschäftigen<br />

sich nicht in je<strong>der</strong> freien Minute mit 'Beziehungsscheiß'.<br />

Aber womit dann? Mit <strong>der</strong> bösen Nachbarin, dem Terror <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

peinlich junggebliebenen Hippie-Großmutter, den wirtschaftskriminellen<br />

Manipulationen des Ehemannes, <strong>der</strong> Versicherung für den Auto-Schaden,<br />

den Erpressungsversuchen jugendlicher Liebhaber aus <strong>der</strong> Nachbarschaft,<br />

den Dinnerparties... aber das alles reicht nicht. Es fehlt das Eigentliche,<br />

die Story, das Schicksal. So beschreibt sich die strenge Brie gegenüber<br />

ihrem Psychiater Dr. Goldfein zwar als weiße Protestantin, <strong>der</strong> Gott,<br />

Familie und Nation etwas bedeuten, und ihr Leben hat tatsächlich die<br />

entsprechenden schönen Konflikte zu bieten. Ihren zutiefst verklemmten<br />

Mann muß sie mit <strong>der</strong> Nilpferdpeitsche z<strong>um</strong> Höhepunkt treiben, und den<br />

Sohn kriegt sie nur mit <strong>der</strong> Einweisung in ein Elite-Internat von <strong>der</strong><br />

häßlichen Schwulen-Szene weg. Nein, <strong>um</strong> die Quote hoch zu halten,<br />

hantiert die Sendung noch mit <strong>der</strong> zusätzlichen Stimulanz des Krimi-<br />

Genres. Wie bei 'Twin Peaks', <strong>der</strong> alten Vorort-Kultserie von David Lynch,<br />

wird dem vermeintlich banalen Tun <strong>der</strong> Hausfrauen ein rätselhafter<br />

Ritualmord untergemischt, <strong>der</strong> nie aufgeklärt wird, aber mit 'unheimlicher'<br />

Musik und ständigen vagen Hinweisen beschworen wird. Angeblich erhöht<br />

das die Spannung. Und macht die Figuren interessanter, vor allem den<br />

männlichen Hauptdarsteller, <strong>der</strong> ohne den pseudogeheimnisvollen Spuk<br />

nur ein doofer Prolet im Holzfällerhemd wäre. Er macht den Klempner und<br />

sieht auch so aus. Topfschnitt, d<strong>um</strong>me kleine Augen, Viertagebart,<br />

niedrige Stirn, Muskeln satt. Ausgerechnet er ist <strong>der</strong> Liebhaber <strong>der</strong> extrem<br />

reizenden supersexy Susan. Wünschen sich die weiblichen TV-Gucker so<br />

einen Schrat im Bett? Offensichtlich. Damit es nicht auffällt, ist er im<br />

Nebenberuf angeblich CIA-Agent. Und ich bin <strong>der</strong> Kaiser von China!<br />

<strong>Auf</strong> Dauer wird das Konzept bei uns nicht aufgehen. In den USA schon.<br />

Dort kann man die noch vorhandenen traditionellen Werte gegen die<br />

Unwerte des Zeitgeistes ausspielen und Komik erzeugen. Das macht die<br />

Figuren mehrdimensional, wi<strong>der</strong>sprüchlich, ja fast menschlich. Man kann<br />

sie lieben. In Deutschland läuft das alles viel brutaler ab, wie die neue<br />

Serie 'Bis in die Spitzen' zeigt. Sie ist höchst aufwendig hergestellt und<br />

nicht nur ästhetisch ein Meisterwerk.<br />

Hierzulande ist eine inszenierte Dialektik von Gut und Böse nicht mehr<br />

möglich. Es geht auch ohne. Ist sogar angemessener für uns. Wo gibt es<br />

seit dem Abgang Pfarrer Flieges noch gute Menschen? Claudia Roth, ich<br />

weiß. Aber sonst - nada. Z<strong>um</strong>indest legt das 'Bis auf die Spitzen' nahe.<br />

Dort sind alle gleichmäßig vulgär, sprich 'ehrlich', desillusioniert,<br />

sexsüchtig, unfreundlich, unhöflich, eben deutsch. Je<strong>der</strong> betrügt jeden,<br />

sexuell gesehen. Bei circa einem Dutzend Figuren ergeben sich<br />

mathematisch 144 Betrugsmöglichkeiten. Und die werden vom Drehbuch<br />

auch komplett ausgeschöpft. Ist es schon bei den Housewives<br />

unwahrscheinlich, daß eine die Zeitung, die ein Bike-Kid in den Vorgarten<br />

wirft, tatsächlich LIEST, etwa beim zweiten Frühstück und unter dem Bild<br />

Gerge W. Bushs, das Brie liebevoll aufgehängt hat, so ist <strong>der</strong>lei<br />

Unsexuelles beim neuen SAT1-Schlager gänzlich ausgeschlossen. Hier liest<br />

keiner, hier sieht keiner die Tagesschau, hier hat keiner einen einzigen<br />

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