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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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verständigen. Sie war sehr blond, hatte große, kobalt-, nein preußischblaue<br />

Augen, und als ich sie fragte, ob wir nicht heiraten wollten, hatte<br />

sie ja gesagt. Sicherlich war es <strong>halb</strong> im Scherz gewesen, aber eben auch<br />

<strong>halb</strong> im Ernst. Das reichte mir. Sie hielt mich für einen großen Dichter, für<br />

einen heutigen Hugo von Hoffmannthal wahrscheinlich, einen göttlichen<br />

Verseschmied. Sie war noch Jungfrau. Der einzige Freund, den sie einmal<br />

gehabt hatte, war von ihr fortgeschickt worden. Hatte er sie geschlagen?<br />

Betrogen? Beides? War er Trinker gewesen? Homosexuell? Gemein?<br />

Unsensibel? Blöd? Nein, er hatte gegen irgendeine juristische Petitesse<br />

verstoßen, irgendeine Prinzipienreiterei war das gewesen von ihrer Seite<br />

aus, niemand hatte einen Schaden gehabt, ganz im Gegenteil: <strong>der</strong> Mann<br />

hatte ein Foto von ihr mit Geige, das er gemacht hatte, sie züchtig<br />

angezogen und ernst blickend, einem Freund mit Galerie überlassen,<br />

ohne sie zu fragen. Das war <strong>der</strong> Trennungsgrund. Daß er nicht vorher<br />

gefragt habe. Natürlich hätte sie ja gesagt, aber er habe nicht gefragt.<br />

Das regte sie noch Jahre später auf, diese Verletzung eines Prinzips. Fast<br />

täglich fing sie davon an, und jedem neuen Bekannten erzählte sie den<br />

"Skandal". Man kann sich gut vorstellen, wie solch eine Frau tot <strong>um</strong>fiele,<br />

erführe sie auch nur von einem Promille meiner Tabu- und<br />

Prinzipienverletzungen, die ich täglich und vorsätzlich beging!<br />

In Gesellschaft hatten wir wun<strong>der</strong>volle Erlebnisse, auch wenn es mich<br />

natürlich nervlich über alle Maßen und jede Vorstellung, die sich ein<br />

normaler Mensch davon machen könnte anstrengte. Wir begannen den<br />

Tag manchmal mit einer Wohltätigkeits-Matinée am Vormittag (sie spielte<br />

Geige), schüttelten Hände, machten small talk, wechselten dann zu<br />

einem Brunch bei befreundeten Musikern (sie spielte Geige), o<strong>der</strong> einer<br />

Geburtstags-Party in <strong>der</strong> ehemaligen Ossi-Theaterszene (sie spielte...),<br />

o<strong>der</strong> einem richtigen Konzertabend in <strong>der</strong> Staatsoper (sie...), <strong>der</strong> mit<br />

Kollegen, Librettisten und Verwandten in <strong>der</strong> Kantine ausklang. Danach<br />

fuhr ich sie nach Hause, nervlich schon das World Trade Center nach dem<br />

Anschlag. Ich fieberte <strong>der</strong> Nacht entgegen. Doch jedesmal, wenn ich die<br />

Treppen hochsprang, fragte sie befremdet, wieso ich mitginge. Ob ich<br />

vielleicht eine Intimität erzwingen wolle, die normalerweise niemals<br />

stattfände? Es kam stets zu äußerst häßlichen Szenen. Und immer wurde<br />

ich ungetröstet nach Hause geschickt, wo mich nur viele Vali<strong>um</strong><br />

ruhigstellen konnten.<br />

Für sie war <strong>der</strong> Fall klar. Ich konnte mich sogar in sie hineinversetzen: Es<br />

war ein sogenannter großartiger Abend gewesen, war das nicht genug im<br />

aktuellen Stadi<strong>um</strong> <strong>der</strong> Verlobung? Was wollte er denn noch, <strong>der</strong><br />

unersättliche Herr Dichter? Einen Kuß? Nun, dann zeige er wenigstens<br />

Mut und raube einen! Das trüge ihm eine saftige Ohrfeige ein, würde aber<br />

als Pluspunkt gewertet werden. Ja, das Burgfräulein hätte ihn nur noch<br />

lieber nach solch einer schneidigen Tat... aber sein Ohr auf ihre<br />

unberührte Brust legen, z<strong>um</strong> schieren Pennen, oh mein Gott! Der Mann<br />

war ja unmöglich!!<br />

Und so verlor ich sie wie<strong>der</strong>. Sie begriff, dass einer, <strong>der</strong> sowas von ihr<br />

wollte, nicht v. Hoffmannsthal war, son<strong>der</strong>n ein nie<strong>der</strong>trächtiger Schurke,<br />

<strong>der</strong> sich ins Schloß geschlichen hatte. Von einem Tag auf den an<strong>der</strong>en<br />

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