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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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"Wie ich schon sagte, Mann. Da stehst Du in Konkurrenz zu Benedikt. Nun<br />

steh' doch dazu!"<br />

Er dreht die Musik lauter, "Burn all the flags". Wir kommen nicht weiter<br />

mit dem Auto, Siel-Bauarbeiten, diese Pseudo-Arbeiten, die Jahre die<br />

Straße z<strong>um</strong> Buddelfeld machen und grundsätzlich nie fertig werden. <strong>Auf</strong><br />

den Bürgersteigen ka<strong>um</strong> Menschen. Wo sind sie bloß? Es gibt auch keine<br />

Kioske und ka<strong>um</strong> Currywurst-Buden, und wenn man einmal Leute sieht,<br />

rauchen sie und trinken sie, was ja an sich nicht schlecht wäre, aber<br />

hier... es fehlt die Freude dabei, wie sie die Kölner haben, diese<br />

Lebenslust. Nein, hier könnte Ratzinger nichts reißen. Immer wie<strong>der</strong><br />

rußiger Backsteinbau, und nur ganz selten ein würdevolles<br />

Hauptverwaltungsgebäude aus <strong>der</strong> Vorkriegszeit. Schließlich ein<br />

postmo<strong>der</strong>nes West LB Hochhaus mit scheußlicher Kunst am Bau<br />

Skulptur, Boa zeigt es stolz. Ist natürlich schon schmutzig weiß besprüht,<br />

wie mit Taubenkacke. Die Graffittis geben <strong>der</strong> Stadt den Rest. Aber vor<br />

<strong>der</strong> Skulptur - zwei aufeinan<strong>der</strong> stehende mannshohe Eiseneier,<br />

verbunden mit einem disproportionalen Eisendreieck - stehen vier lustige<br />

Gesellen! Alle dick, alle Anfang 30, sie reden und feixen, mixen sich<br />

Wodka mit Red Bull. Ich sehe interessiert hinüber. Schwarze T-Shirts,<br />

Jeans, Turnschuhe, eine <strong>Auf</strong>schrift "Wir weichen nur zurück, <strong>um</strong> Anlauf zu<br />

nehmen". Aber dann sehe ich den Haken. Besser gesagt die Hakenkreuze.<br />

"Gas geben!"<br />

Ich schreie Boa an, merke selbst, wie hysterisch meine Stimme dabei<br />

wird. "Das sind Nazis!"<br />

"Oh, Scheiße!"<br />

Er hatte gerade die Musik lauter gedreht. Er gibt Stoff, <strong>der</strong> altersschwache<br />

Sechszylin<strong>der</strong> eiert quietschend los. "Das hat uns gerade noch gefehlt!"<br />

"Und ich dachte schon, die kennen dich, Mann."<br />

"Nee, nie gesehen. Glaub mir, ich kenne hier jeden."<br />

"Ist wohl doch nicht so toll, Dein tolles Dortmund."<br />

Ich bin richtig verschnupft. Das wäre uns in Köln nicht passiert. Schon gar<br />

nicht beim Papst!<br />

"Ey, Alter, es tut mir leid. Weißt du, es ist nicht so, wie es aussieht.<br />

Vielleicht... wollten die das Nazi-Ding nur verspotten o<strong>der</strong> so."<br />

Es folgen wie<strong>der</strong> sehr eingängige Melodien. Boa hätte auch als<br />

Mainstreamer Millionen copies verkaufen können. Wenn er gewollt hätte.<br />

Aber er will nicht. Lieber noch ein Kuchen-Café, "Kaffeehaus zur<br />

Postkutsche". Wir sitzen ernst beieinan<strong>der</strong>, er, die liebe Freundin aus<br />

Michigan und ich, trinken Eierlikör und bearbeiten eine Zitronenschnitte<br />

und zwei Marzipan Nußsahnetorten. Dann fährt er mich z<strong>um</strong> Bahnhof. Ich<br />

lasse ihn ungern zurück. Hier, in diesem eingeschlossenen Kessel. Er<br />

winkt dem Zug noch lange nach, so treu und ohne zu lächeln, und ich<br />

denke, daß es okay ist so.<br />

Denn einer muß den Job eben machen.<br />

Fußnote<br />

Dortmund/Philip Boa<br />

Nach diesen Erfahrungen, guten wie schlechten, hatte ich etwas Luft, mal einen Artikel<br />

aus schierer Lust und Laune zu schreiben. Die Süddeutsche Zeitung betreute mich mit<br />

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