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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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geordnet, oft ungeordnet, und ich sehe plötzlich Dr. Mabuse vor mir, nach<br />

seiner Verhaftung, im Irrenhaus, wie er in diesen Bergen von Papier sitzt<br />

und unentzifferbare Rätselschriften verfaßt... Aber Brock taugt nicht für<br />

den St<strong>um</strong>mfilm. Ihn kann man sich nur mit dem Megaphon in <strong>der</strong> Hand<br />

vorstellen, laut, unbeirrbar und nicht von dieser Welt:<br />

"Fishing for complications - <strong>der</strong> Kampf <strong>um</strong> CD-Rom!"<br />

So heißt, glaube ich, eines seiner ungefähr 122 Bücher.<br />

"Na, nun setzen Sie sich. Der Kaffee kommt bereits."<br />

"Nein, ich setze mich nicht. Ich bestehe auf einen Spaziergang!"<br />

"Nein, trinken Sie erst den Kaffee."<br />

Es geht wie<strong>der</strong> los. Nach wenigen Minuten reißt bei mir <strong>der</strong> Film.<br />

Z<strong>um</strong>indest die Tonspur. Ich bin Platzeck und habe den Hörsturz. Ich sehe,<br />

wie Brocks Mund auf und zugeht, höre die Worte aber nicht mehr.<br />

Irgendwann merkt er es, wohl, weil ich das Köpfchen sinken lasse und<br />

apathisch auf meine Hände und die Mokkatasse blicke. Wir gehen nach<br />

draußen. Herrliches Wetter. Einen Stock habe ich auch dabei, und<br />

besagten Flachmann. Man befindet sich im 'Bergischen Land' nahe<br />

Wuppertal.<br />

Überall geht's rauf und runter, man glaubt sich in den Alpen, mindestens<br />

Norditalien, alles sehr dreidimensional und schön. Wuppertal hat mir<br />

immer schon sehr gefallen. Die Stadt Gustav Heinemanns. Die Stadt<br />

Johannes Raus. Und die Stadt Bazon Brocks. Nun laufen wir einen<br />

unspektakulären Feldweg entlang, schwach asphaltiert, eine schmale<br />

Straße ohne Autos. Alles dampft und suppt so urig vor sich hin.<br />

Der Professor behauptet, genau diesen Feldweg seien die Nibelungen<br />

entlang gegangen, 18 Leute mitsamt Schatz, Hagen, Treue, Ehre, Verrat,<br />

genau hier, Schritt für Schritt, bis nach Soest hinein, zu dem Grundstück,<br />

auf dem heute die Sparkasse stünde. Dort hätten sie innegehalten, hätten<br />

den Schatz kurz abgesetzt und seien nie<strong>der</strong>gemetzelt worden. Es sei alles<br />

bewiesen. Er, Brock, habe die Dok<strong>um</strong>ente gefunden, und die Wissenschaft<br />

habe erst jetzt, nach Jahrzehnten des Kampfes, endlich erklärt, daß sie<br />

stimmen, jetzt, 2006.<br />

Das Beson<strong>der</strong>e an <strong>der</strong> Geschichte: sie ist so unwahrscheinlich wie wahr.<br />

Bazon Brock hat recht. Es ist genauso, wie er es sagt. Aber es ist zu<br />

ungeheuerlich, als daß man länger als ein paar Sekunden darüber<br />

nachdenken möchte. Die Nibelungen, vor Bazons Buntglastür... Er merkt,<br />

wie beeindruckt ich bin, und nutzt das zu einem kleinen Vorstoß in eigener<br />

Sache:<br />

"Wissen Sie, junger Mann, das einzige, was ich mir in meinem ganzen<br />

Leben immer gewünscht habe, ist EINMAL eine Darstellung meiner<br />

Persönlichkeit zu erleben, wie sie wirklich ist.“ Er möchte also endlich so<br />

gesehen werden, wie er sich selbst sieht. Ich antworte, daß nicht einmal<br />

Gott so gesehen werde, wie dieser sich selbst sehe; es sei a priori nicht<br />

möglich. Aber <strong>der</strong> Professor besteht darauf. Er verlange nicht viel, er<br />

mache alles mit, er vertrage jeden Tadel, aber DIESEN Gefallen möge<br />

man ihm bitteschön tun. Ich sage es ihm zu. Soviel Höflichkeit muß sein.<br />

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