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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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gekommen, jung, rheinisch, ein wenig füllig, ein wenig zu redselig,<br />

und mit einem goldenen Herzen ausgestattet. Vielleicht hat auch<br />

Trude Herr in acht Wochen mit mehr Männern geschlafen als eine<br />

anständige Hamburgerin in achtzig Jahren. Aber es war wenigstens<br />

nicht das Zeitalter <strong>der</strong> Pornografie. Es blieb unter dem Teppich.<br />

Judith Bröhl kehrte immer alles hervor. Der Schmutz wirbelte<br />

ständig durch alle Ecken und Rä<strong>um</strong>e, landete auf dem Teller, in <strong>der</strong><br />

Kaffeetasse, auf Hemd und Mantel, auf Kragen und Taschentuch.<br />

Man konnte gar nicht soviel Niesen und Kotzen, wie neuer<br />

Schmutz nachgewirbelt wurde. Ein aussichtsloser Kampf. Und<br />

natürlich auch jetzt wie<strong>der</strong>. Als ich Judith irgendwann endlich an<br />

den Apparat kriegte, konnte sie nicht sprechen, weil sie bis sieben<br />

Uhr morgens Überdosen von Koks geschnupft hatte, mit einer<br />

fremden D<strong>um</strong>pfbacke von Amerikaner, den sie gerade<br />

kennengelernt hatte. Sie war so voll, dass sie noch nicht einmal<br />

sagen konnte, wie gut ihr „wirklich guter Sex“ gewesen war. Es<br />

gelang mir nicht, wenigstens ihre Adresse rauszukriegen. Hatte sie<br />

keine mehr? Deswegen war ich doch gekommen.<br />

Ich mußte z<strong>um</strong> Weih<strong>nachts</strong>fest <strong>der</strong> Gettys und Judith ihrem<br />

Schicksal überlassen. Das tat mir leid, denn es gibt doch nichts<br />

Schöneres, als einen Menschen zu „retten“, noch dazu einen<br />

jungen Menschen, eine schöne Frau sogar. Denn Judith war, was<br />

man bei ihren vielen extremen Eigenschaften schnell<br />

vernachlässigte, gut gebaut und hatte ein schönes Gesicht. Und<br />

auch wenn sie einen vulgären Sprachschatz hatte, war sie <strong>der</strong><br />

eloquenteste Mensch, mit dem ich verkehrte. Sie war eine<br />

begnadete Geschichtenerzählerin, was daran lag, dass sie beim<br />

Erzählen DACHTE. Es war, als hätte sie jedes zu berichtende Detail<br />

bereits klar vor Augen, während sie über die optimale<br />

Ausdrucksform und Erzählweise nachdachte. Sie rief keine<br />

Erinnerungssätze ab, wie das an<strong>der</strong>e Geschichtenerzähler tun,<br />

son<strong>der</strong>n Roh-Informationen, und die kleidete sie neu ein, in immer<br />

bessere, passen<strong>der</strong>e, plausiblere, hörerfreundlichere Sätze und<br />

Diskurse. Auch baute sie stets Spannungsbögen auf, mittlere und<br />

größere, und immer bezogen sich spätere Sätze auf solche, mit<br />

denen sie Minuten vorher den Spannungsaufbau begonnen hatte.<br />

Es ist schwer zu vermitteln, aber Judith Bröhl war ein grosses<br />

Naturtalent im Erzählen und wußte es nicht. Es wußte auch sonst<br />

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