14.11.2012 Aufrufe

Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Sechs Millionen Biertrinker und kein einziger faschistischer<br />

Übergriff. Dabei singen sie in den Zelten die WM-Hits vom Sommer.<br />

Das beson<strong>der</strong>e Wiesn-Bier wird nur beim Oktoberfest<br />

ausgeschenkt und berauscht schon nach <strong>der</strong> ersten Maß.<br />

Hun<strong>der</strong>ttausende torkeln, haben mit <strong>der</strong> Schwerkraft zu kämpfen -<br />

als hätte jemand Extacy in das städtische Trinkwasser gemischt.<br />

Die laufen einen glatt <strong>um</strong>. Notarztwagensirenen heulen, gehen<br />

aber im seltsamen Lärmbrei unter, werden Teil des Akustik-Orkans<br />

aus "Du gehörst zu mir / Wie mein Name an <strong>der</strong> Tür", "Tainted<br />

Love", 50er Jahre Schlager von Peter Kraus und Rita Pavone, UFA<br />

Wochenschau Fanfaren, Blasmusik und Gekreische aus den<br />

Karussells. Fern <strong>der</strong> Wiesn, ein paar Strassenzüge weiter, hört man<br />

das Massengekreische noch als untergründigen Dauerton,<br />

vergleichbar den Schlachtengesängen in englischen Stadien.<br />

Bayern allerorten, o<strong>der</strong> verkleidete, mit Sepplhosen. Sie stehen an<br />

den aufgestellten Geldautomaten und ziehen die hiesige Währung<br />

aus den Schlitzen. Paul Breitner aus Minnesota. Basti<br />

Schw<strong>eins</strong>teiger aus Calais, Nordfrankreich.<br />

Ein feuerroter, nagelneuer ERSTE HILFE Automat zieht weniger<br />

Publik<strong>um</strong>. Für jeden Notfall und je 1 Euro kann man ziehen: Pflaster<br />

(Schlägerei), Verband (schwere Schlägerei), Kondome (drohen<strong>der</strong><br />

Sex-Unfall) und "Tampons light". So ist das Vaterland heute.<br />

Fürsorglich, überorganisiert, permissiv. Der globale Geheimtip im<br />

Wirtschaftsfaktor Spaß.<br />

Der neue deutsche Mann setzt sich mit an<strong>der</strong>en Männern acht<br />

Stunden lang ins Zelt und trinkt dabei. Er wird dabei kein Fascho,<br />

kein Macho, kein Schläger, kein Hunne. Er bleibt: ein Mensch. Dann<br />

fährt er mit dem Taxi nach Hause. So sieht es auf den zweiten<br />

Blick aus.<br />

<strong>Auf</strong> den dritten aber sieht man den Wahnsinn. In jedem <strong>der</strong><br />

Monster-Zelte, groß wie Petersdome, spielen vielköpfige<br />

Blasorchester, stehen die Leute zu Tausenden auf den Tischen und<br />

bewegen sich wie Irrsinnige. Sie recken die Arme in die Luft,<br />

krächzen "Deutschland!" o<strong>der</strong> "Vivat Colonia!“<br />

"Yes Sir, I can boogie"... Mallorca letztes Jahr? Sylt vor 30 Jahren? Das uralte Riesenrad, <strong>der</strong> Flohzirkus, <strong>der</strong> Hippodrom: alles so irreal. Die<br />

herzigen Herzerl mit den "Mausi, ich liebe Dich" und "I muas oiwei an di denken"-Sprüchen... müßte es nicht längst „Knackarsch“ und<br />

„Geile Sau“ heißen? Wie in einer Zeitreise wird die Internetwelt einfach zurückgelassen. Als eine Art Engel, die das Elend des Irdischen<br />

verlassen, finden sich die Wiesn-Besucher in einem Kosmos aus weissgepunkteten Röcken, dicken Strickjacken mit aufgenähten<br />

Waldmotiven, Holzpferden im Dreh-Karussell, Tra<strong>um</strong>sequenzen aus alten Fellini-Filmen und Ständen und Geschäften wie<strong>der</strong>, die ziemlich<br />

crazy wirken würden, wenn sie nicht so real wären: Großmutter hat hier schon Suppe und Stulle gegessen, <strong>der</strong> Wurzelsepp macht immer<br />

noch den besten Enzianschnaps, und im Illusionstheater beim "Schichtl" wird eine lebendige Frauensperson in zwei Teile zersägt...<br />

195

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!