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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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Liebeslied <strong>der</strong> Hagen? Nichts! Deswegen die vielen Sicherheitskräfte. Das<br />

ganze Zelt ein Krankenhaus. Viele hun<strong>der</strong>t Ärzte und ein Patient. Aber die<br />

Lämmer schweigen alle, selten nur regt sich eine Hand z<strong>um</strong> Beifall,<br />

war<strong>um</strong>? Als externer Gast hat man das leicht peinliche Gefühl, einer doch<br />

recht intimen Party heruntergekommener enger Spinnerfreunde<br />

beizuwohnen. Wie die Bundeshauptversammlung <strong>der</strong><br />

Briefmarkensammler, da wird doch auch mehr geklatscht. Aber Nina-<br />

Hagen-Fans sind stille, st<strong>um</strong>me Wesen, altgewordene Ossis, vom Leben<br />

Besiegte. Natürlich nicht nur. Es sind auch Leute versteckt im alten<br />

Kin<strong>der</strong>-Zirkus-Zelt, wenige nur, die wissen: hier erleben sie die größte<br />

Rocksängerin, die Deutschland nach dem Krieg hatte, vielleicht sogar die<br />

einzige. Die größte Zerstörerin, eine echte Künstlerin. Leichtfüßig<br />

explodierend macht sie das gesamte Spektr<strong>um</strong> alternativer Kultur nie<strong>der</strong>:<br />

subkulturell Versprengte aus drei Dekaden, frauenbewegte Linke,<br />

Sexualkämpfer jeglicher Schattierung, Transen, Glatzenfrauen, Esoteriker,<br />

Ost-Nostalgiker, Kin<strong>der</strong>selige, Hippies, Radikalökos, Indienfahrer,<br />

Altrocker, Verschwörungstheoretiker, UFO-Gläubige, AIDS-Theoretiker<br />

und Zeugen von Sebnitz - nur Nina Hagen selbst ragt aus allem hervor<br />

wie Jesus mit <strong>der</strong> Peitsche im Tempel, <strong>der</strong> die Geldwechsler vertreibt. Sie<br />

ist <strong>der</strong> permanente Gegenimpuls zu allem, was sie präsentiert. Sie bedient<br />

die Min<strong>der</strong>heiten - und verbrennt sie genüßlich. Sie säuselt mit verdrehter<br />

Piepsstimme irgendwelche Indienkitsch-Weisheiten und schmeichelt damit<br />

den im Publik<strong>um</strong> ausharrenden Esoterikern, aber die wissen bald nicht<br />

mehr, ob sie Männlein o<strong>der</strong> Weiblein ist. Dann wie<strong>der</strong> "fetzt" die Band,<br />

und die Puhdys- und Peter-Maffay-Fans beginnen mit den grauen Matten<br />

zu wippen, doch selbst dieses wi<strong>der</strong>liche Fetzen wird von Nina schon nach<br />

sechzig Sekunden durch ausbrechende Zerstörungswut, durch<br />

Grimassieren, Übertreiben, anarchisches Grölen z<strong>um</strong> Einsturz gebracht. Es<br />

ist, als schriee sie gegen die D<strong>um</strong>mheit an, und wenn Nina schreit,<br />

schweigt bald <strong>der</strong> Rest. Und die Band, eben noch "echt tierisch geile<br />

Rock'n'Roller", stehen als Mainstream-Schweinerock-Langweiler da, die<br />

auch für Udo Jürgens 'fetzige' Stimmung machen würden. Zur Strafe<br />

müssen sie nun Zarah-Lean<strong>der</strong>-Lie<strong>der</strong> spielen, erst süßlich (Freude bei <strong>der</strong><br />

Lesbenfraktion), dann als Stuka-Angriff. Ein Hurrican tobt hernie<strong>der</strong>,<br />

graue Panther fallen in Ohnmacht. "Der Wind hat mir ein Lied erzählt",<br />

wer ahnt schon, daß Stalingrad daraus wird. An<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> ewige Casdorf<br />

bricht sie auch das nach Belieben und schlechter Laune wie<strong>der</strong> ab; über<br />

den deutschen Kulturscharmützeln steht eine, die selbst Englisch besser<br />

singt als Jennifer Lopez und besser kompiliert als Frank Zappa, weit<br />

drüber. Da wird auch sekundenweise Sabrina Setlur abgehängt, die arme<br />

doofe Maus. Wehe, wenn Nina Hagen rappt, das tat sie nämlich schon, als<br />

das Frankfurter p.c.-Äffchen noch die Brust bekam, da wird dann alles<br />

nochmal eine Dimension gewalttätiger, kraftvoller, härter, potenter -<br />

anschließend ist <strong>der</strong> aktuelle deutsche Hiphop als folgenlose<br />

Gesinnungssingerei enttarnt.<br />

Man hat in je<strong>der</strong> Sekunde das Gefühl, daß sie nicht weiß, was sie im<br />

nächsten Moment sagen wird. Was sie sich gleich einfallen läßt. Welche<br />

Laune sie gleich reiten wird. Und immer wie<strong>der</strong> wird Berlin thematisiert,<br />

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